Flüchtende Menschen aus der Ukraine wurden gestern Nacht gezwungen, den Zug nach München zu verlassen. Die Flüchtlinge und ihre Helfer*innen sind verzweifelt.

Es ist kurz vor Mitternacht am Wiener Hauptbahnhof. Als der Zug aus Budapest nach München und Zürich mit etwas Verspätung am Bahnsteig 8 einrollt, wirken viele der wartenden Menschen erleichtert. Es sind vor allem geflüchtete Menschen aus der Ukraine, einige Familien, viele Frauen, viele Kinder, viele ältere Menschen.

Manche Kinder sind noch sehr klein, vor mir sehe ich einen Kinderwagen. Schon jetzt ist klar: Im Zug werden alle ein wenig zusammenrücken müssen. Ein Mitarbeiter der ÖBB wird später in einem Gespräch am Bahnsteig kritisieren, dass die ÖBB bisher weder einen Extrazug noch zumindest zusätzliche Waggons bereitgestellt hätten.

Laut ÖBB „kein Bedarf“ zum Ausruhen

Doch es ist für viele der flüchtenden Menschen wohl zumindest ein großer Fortschritt, dass sie jetzt im Zug sitzen können. Denn am Wiener Hauptbahnhof ist die Lage enorm ungemütlich. Es gäbe sogar eine Notschlafstelle mit rund 50 Betten, doch die ist geschlossen.

Zusätzlich gäbe es auch eine Lounge der ÖBB für Erste-Klasse-Passagiere, die ebenfalls jederzeit geöffnet werden könnte. Doch auch hier keine Chance für die Menschen.

Erst um 23 Uhr abends öffnet die Schlafstelle. Zuvor sehe ich, wie ältere Menschen, Familien, Kinder, versuchen, auf den Sitzbänken ein wenig Schlaf zu finden. Neben manchen Bänken stehen Windeln für die Kinder.

Alle Bilder: Michael Bonvalot

Die Eltern „wickeln ihre Kinder im Sitzen. Versuchen, ihren Kindern auf Koffern und Rucksäcken ein Lager zu bauen. Umklammern ihre Koffer nach vorne gebeugt“, hatte mir eine Helferin gestern berichtet. Es wäre nicht notwendig, die Notschlafstelle früher zu öffnen, hatte mir ÖBB-Sprecherin Gabi Zornig zu Mittag am Telefon gesagt: „Es gibt keinen Bedarf zum Ausruhen.“ Die Situation vor Ort spricht eine andere Sprache.

Überforderung

Doch jetzt ist der Zug am Bahnsteig 8 endlich da, es soll losgehen! Die Menschen stehen auf, betreten den Zug. Die gesamte Situation ist allerdings enorm chaotisch. Der vordere Zugteil geht nach München, der hintere nach Salzburg und Zürich. Kaum jemand kennt sich aus, die Mitarbeiter*innen der ÖBB wirken überfordert. Es gibt keinerlei Personal vor Ort, das Ukrainisch oder Russisch spricht.

Etwas besser wird die Situation, als einige freiwillige Helfer*innen eintreffen. Es sind Ukrainer*innen und Russ*innen, die in Wien leben, sie können zumindest übersetzen. Ohne ihre Anwesenheit gäbe es inzwischen wohl völliges Chaos. „Das geht schon seit Tagen so. Wir brauchen hier endlich vernünftige Strukturen“, kritisiert Xenia Ostrovskaya, eine russische Künstlerin, die seit mehreren Jahren in Wien lebt.

Ostrovskaya erzählt, dass sie bereits seit letzter Woche täglich am Hauptbahnhof hilft und die flüchtenden Menschen aus der Ukraine unterstützt. Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen, weil sie an allen Ecken gleichzeitig versucht, zu helfen und zu übersetzen. Schließlich sind endlich alle Menschen im Zug – ob sie in den richtigen Waggons sind, ist unklar.

Mitfahrt nur mit Sitzplatz

Doch auch, als alle Fahrgäste im Zug sind, bewegt sich nicht. Es dauert länger und länger. Der Zug fährt einfach nicht ab. Der Grund: Die ÖBB weigern sich, den Zug losfahren zu lassen. Als Grund geben die Zugbegleiter*innen und Securities an, dass nicht alle Menschen im Zug einen Sitzplatz hätten. Ein Argument, das für alle Menschen völlig absurd wirken muss, die jemals in einem überfüllten Zug der ÖBB gesessen sind.

Menschen werden dazu aufgefordert, den Zug zu verlassen. Viele der Menschen wollen das aus verständlichen Gründen nicht. Später wird mir Ostrovskaya von einer Familie erzählen, die bereits seit sechs Tagen unterwegs ist. Ein ÖBB-Security sagt, dass er absolut verstehen würde, warum die Menschen im Zug bleiben wollen. Auch die drei am Bahnsteig anwesenden Polizisten bleiben ruhig.

Ich höre Gewaltfantasien

Andere Securities der ÖBB werden dagegen zunehmend aggressiv. Vor allem ein muttersprachlich deutscher Sicherheitsmitarbeiter tut sich negativ hervor. „Alle Helfer her und raus mit ihnen“, brüllt er am Bahnsteig. Ich höre Gewaltfantasien. Die freiwilligen Helfer*innen und Übersetzer*innen müssen jetzt auch noch versuchen, die Securities zu beruhigen.

Der Druck auf die Menschen im Zug steigt immer mehr. Schließlich sehe ich, dass Menschen den Zug verlassen. An mir geht eine ältere Frau vorbei – eine halbe Stunde vorher hatte ich noch gesehen, wie eine Helferin ihr erklärt hatte, in welchen Waggon sie einsteigen soll. Die Frau sieht traurig aus, verzweifelt, erschöpft.

Dann steht direkt vor mir eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Das eine Kind sitzt noch im Kinderwagen. Auch sie mussten den Zug verlassen. Zwei Freiwillige helfen ihnen dabei, ihr Gepäck in die Wartehalle des Hauptbahnhofs zu tragen. Die Eltern wirken apathisch, die Helfer*innen sind wütend.

ÖBB behauptet, es gäbe genug Kapazitäten

„Das kann so nicht weitergehen. Es werden immer mehr Menschen ankommen, wir brauchen mehr Züge und mehr Verständnis“, sagt Ostrovskaya. Schließlich fährt der Zug nach München ab. Mit 90 Minuten Verspätung. Wie viele Menschen insgesamt aussteigen mussten, kann ich nicht sagen.

ÖBB-Sprecher Bernhard Rieder sagt in einem schriftlichen Statement: „Wir bieten ausreichend Kapazität in unseren Zügen. Sollte es aber trotzdem einmal zu einem zu vollen Zug kommen, bitten wir um Verständnis, dass die Weiterreise erst mit einem nachfolgenden Zug erfolgen kann.“

Auf meine konkreten Fragen zur Lage gestern vor Ort geht die ÖBB nicht ein. Ebenfalls keine Antwort gibt es auf meine Frage nach Extrazügen oder zusätzlichen Waggons. Die ÖBB wären auch gerade dabei, „zusätzliche Wartemöglichkeiten zu schaffen“. Auf meine Frage, ob eine durchgehende Öffnung des vorhandenen Schlafsaals umgesetzt wird, geht er nicht ein.

Die Familie mit den beiden kleinen Kindern vom Bahnsteig 8 werde ich übrigens später nochmals wieder sehen. Um kurz nach eins in der Früh. In der kalten Wartehalle des Hauptbahnhofs, die Lounge der ÖBB ist immer noch geschlossen. Auf den Sitzbänken in der Wartehalle versuchen sie, einen Schlafplatz für sich und ihre Kinder aufzubauen.

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