Eine deutliche Mehrheit der türkischen Wähler:innen in Österreich hat für Präsident Erdoğan und für rechte Parteien gestimmt. Das sind die Hintergründe – und das müsste jetzt passieren.

Zahlreiche Menschen jubeln am Abend der Türkei-Wahl am Wiener Reumannplatz. Sie feiern an diesem 28. Mai, dass Recep Tayyip Erdoğan erneut Präsident der Türkei geworden ist.Türkische Fahnen werden geschwenkt, immer wieder wird der Wolfsgruß der faschistischen Grauen Wölfe gezeigt. Die Wölfe, formell Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), sind seit Jahren enge Verbündete der AKP von Erdoğan und sitzen mit rund zehn Prozent im Parlament. Während in der Türkei selbst der Sieg von Erdoğan – trotz Repression gegen die Opposition und trotz Wahlbetrug – eher knapp war, dürfte es in Österreich eine klare Sache gewesen sein.

Knapp 74 % der Stimmen aus Österreich gingen bei der Präsidentschaftswahl an Erdoğan, also rund drei Viertel. Auch seine Partei, die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), hat bei den Parlamentswahlen hierzulande klar gewonnen. Damit sind rechte Parteien unter den Wähler:innen aus Österreich nochmals wesentlich stärker als in der Türkei selbst.

Zuerst vor der eigenen Tür kehren

Das führt nun auch zu Debatten in Österreich. “Wer in Österreich lebt, soll gefälligst auch demokratisch wählen” oder “Geht doch nach Hause, wenn es euch Erdoğan so gut gefällt”. So oder so ähnlich tönt es teilweise in sozialen Medien. Der plumpe Rassismus, der sich in solchen Worten offenbart? Das fällt manchen dabei nicht einmal auf. Ebenso wenig das eigene Überlegenheitsdenken und der Herrschaftsanspruch, der sich darin verbirgt.

Ein weiterer blinder Fleck: Bei der Präsidentschaftswahl 2016 hat FPÖ-Kandidat Norbert Hofer knapp 50 Prozent der Stimmen erhalten – das beste Wahlergebnis für einen extrem rechten Kandidaten in Westeuropa nach 1945. Das sind also zuerst eindeutig umfangreiche Hausaufgaben angebracht, bevor Nachhilfe beim “demokratisch wählen” angeboten wird. Doch auch jenseits offensichtlicher Vorurteile fragen sich viele Menschen, warum die türkische Community in Österreich wählt, wie sie wählt. Gehen wir auf die Suche nach Antworten.

Wer hat überhaupt gewählt?

Eine erste wesentliche Antwort: “Die” türkische Community wählt in ihrer Gesamtheit tatsächlich gar nicht. Wahlberechtigt ist ausschließlich jener Teil der Community mit türkischer und kurdischer Migrationsbiografie, der weiterhin die türkische Staatsbürger:innenschaft hat. Und das ist natürlich eine wichtige Einschränkung. Eine weitere bedeutende Einschränkung: Wahlberechtigt waren laut türkischer Botschaft 112.000 Personen. Abgegeben wurden laut Botschaft allerdings nur 67.726 Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag also gerade einmal bei 60,47 %. Übersetzt: Sogar fast genau 40 % der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen. Und das werden wohl eher jene gewesen sein, die sich für die Politik in der Türkei weniger interessieren.

Dazu haben sehr viele Menschen aus der türkischen und kurdischen Community inzwischen die österreichische Staatsbürger:innenschaft. Tendenziell werden darunter auch viele Menschen sein, die die Staatsbürger:innenschaft pragmatisch sehen und der Nation nicht so wahnsinnig viel Bedeutung zumessen – unter ihnen auch viele explizit Linke. Ebenso werden vermutlich jüngere Menschen, die hier geboren sind, eher die österreichische Staatsbürger:innenschaft haben – es wäre also nicht überraschend, wenn bei der Türkei-Wahl in Österreich das durchschnittliche Alter der Wählenden über den Gesamtdurchschnittsalter der Community liegt.

Und schließlich werden sich vermutlich überdurchschnittlich viele Menschen mit kurdischem Hintergrund leichter von der türkischen Staatsbürger:innenschaft verabschiedet haben – und damit nicht wahlberechtigt sein. Dazu kommen in Österreich gar nicht so wenige (meist linke) politische Flüchtlinge aus der Türkei. Für sie scheint der Gang zur Wahl in der Botschaft oder den Konsulaten kaum denkbar.

Wie eine Wahl ausgehen würde, bei der tatsächlich alle Menschen mit türkischer und kurdischer Migrationsbiografie wählen dürften und würden? Das wissen wir schlichtweg nicht. Tatsächlich also ist das Wahlergebnis aus Österreich kein Spiegel der türkischen und kurdischen Community. Es ist ein Ausschnitt, der aber in keiner Weise repräsentativ ist.

Nationalismus aus der Ferne

Doch sehen wir uns jene an, die zur Wahl gegangen sind und rechts und nationalistisch gewählt haben. Was ein Leben in der Türkei heute bedeutet, das wissen die meisten dieser Wähler:innen überhaupt nicht. Entweder, weil sie schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Türkei leben. Oder weil sie ohnehin gebürtige Wiener:innen, Grazer:innen oder Linzer:innen sind und die Türkei nur aus dem Urlaub kennen.

Jugendarbeit und Wissenschaft kennen das Phänomen des sogenannten “Nationalismus aus der Ferne” (im Original: Long distance nationalism). Damit ist die Imagination eines fernen und stolzen Vaterlandes gemeint. Es wird als positiv aufgeladenes Gegenstück zu den erniedrigenden Erfahrungen des Alltags erfahren. Übersetzt: Wer immer wieder als “Scheiß-Türke” beschimpft wird, kann entweder daran zerbrechen – und/oder die Beschimpfung positiv umdeuten. Und das wiederum bedeutet: Jede ethnische Erniedrigung, jede rassistische Polizeikontrolle, jede Aufforderung, doch “nach Hause” zu gehen (Wohin? Wien-Favoriten? Graz-Lend? Linz-Franckviertel?) ist Wasser auf die Mühlen der türkischen Rechten.

Nationalismus im luftleeren Raum

Doch gleichzeitig ist auch dieser Nationalismus aus der Ferne enorm vergiftet. Denn Nationalismus funktioniert immer dann am besten, wenn jene Aspekte klein gemacht werden, die dem Stolz im Wege stehen. Und damit muss alles weggeschoben oder geleugnet werden, was in diese Erzählung nicht hineinpasst: Etwa die üble wirtschaftliche Lage in der Türkei, die galoppierende Inflation und die Korruption. Das wiederum geht nicht zuletzt deshalb sehr gut, weil die Wähler:innen in der Diaspora das ja schlichtweg nicht spüren. Es ist also ein Nationalismus, der in einer Blase existiert, in einem luftleeren Raum.

Doch auch grundlegende nationalistische Erzählungen über die vermeintliche oder erwünschte Größe eines Landes funktionieren besonders gut, wenn sie nicht von realen Problemen im Alltag dieses Landes überlagert werden. Der Weg zur Verleugnung oder Verharmlosung von Rassismus und Genoziden – gegen die kurdische und armenische Minderheit – ist dann bereits sehr kurz.

Föderation Österreich Yozgat

Hier kommen dann zusätzlich weitere wichtige ideologische Einflüsse zum Tragen. Werden wir konkret: Türkeibezogene Migration vor allem nach Wien erfolgte vielfach aus der Region Yozgat. Es ist eine traditionelle bäuerliche Hochburg der türkisch-nationalistischen Rechten, einige hundert Kilometer östlich von Ankara. Im Genozid an der armenischen Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs wurden allein im Distrikt Yozgat über 30.000 Menschen ermordet. Das klingt alles wie aus einer lange vergangenen Welt. Doch wer heute um die 60 ist, dessen Großeltern könnten das noch selbst miterlebt haben – und haben dann möglicherweise ihre Erklärungsversuche, Verharmlosungen oder Rechtfertigungen an die nächsten Generationen weitergegeben. Wir kennen das aus Österreich allzugut.

Selbstverständlich haben dann Menschen, die im Lauf der Zeit nach Österreich gezogen sind, ihre politischen Werthaltungen nicht am Grenzbalken abgegeben. Und wir wissen, dass gerade grundlegende Werthaltungen biografisch oft über Generationen weitergegeben werden. Wer es nicht glaubt, soll etwa ins oberösterreichische Innviertel blicken, einer Region mit einer 200-jährigen deutschnationalen Tradition, wo bis heute die FPÖ überdurchschnittlich stark ist.

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Tradition und Propaganda

In Wien gibt es sogar eine eigene “Föderation Österreich Yozgat” (AYFED). Auf Instagram findet sich ein Bild vom März 2021, wo zwei Vertreter der Föderation aus Österreich mit İbrahim Ethem Sedef posieren, einem MHP-Abgeordnete aus Yozgat. Im Hintergrund am Foto: Die drei Halbmonde, das Logo der faschistischen Wölfe/MHP.

Es gibt also in manchen Familien über Generationen eine ideologische Beeinflussung durch die jeweilige Elterngeneration. Oft, wir kennen es von vielen Eltern und Großeltern, gepaart mit Erzählungen von der angeblich guten alten Zeit. Dazu kommt die einschlägige Propaganda der türkischen Fernsehsender, die auch in Österreich gesehen werden (nicht zuletzt des Staatssenders TRT). Der Nationalismus aus der Ferne kann dieses Phänomen dann noch verstärken: Es gibt keine eigenen negativen Erfahrungen in der Türkei, die diese ideologische Beeinflussung brechen könnten.

Was müsste nun passieren?

Die erste und wichtigste Erkenntnis: Es handelt sich hier um eine österreichische Fragestellung, die damit auch in Österreich gelöst werden muss. Das zeigt sich übrigens auch in den Wahlergebnissen, die in Österreich deutlich anders sind als in der Türkei. Die zweite: Es geht um Menschen, die entweder seit vielen Jahren hier leben oder ohnehin hier geboren sind. Jede rassistische Aufforderung, irgendwohin auszuwandern, ist damit nicht nur grundsätzlich abzulehnen. Sie ist auch Wasser auf die Mühlen der türkischen Rechten. Denn sie zeigt deren Wähler:innen ein ums andere Mal, dass sie in Österreich Menschen zweiter Klasse sind.

Bild: Michael Bonvalot

Ein wesentlicher Schritt, um die Dominanz des Nationalismus aus der Ferne zu brechen, ist somit das konsequente Aufstehen gegen jeden Rassismus. Ein Arbeitsmarkt, wo Özlem nicht mehr laufend schlechter behandelt und bezahlt wird als Susanne. Ein Wohnungsmarkt, wo Ahmed bei der Wohnungssuche die gleichen Bedingungen hat wie Klaus. Einen einfacheren Zugang zur Staatsbürger:innenschaft und die Möglichkeit zur Doppelstaatsbürger:innenschaft. Denn wer in Österreich nicht wählen und damit mitbestimmen kann, wird sich auch für die Politik in Österreich nicht interessieren. Dazu mehr gut ausgebildete Jugendarbeiter:innen mit türkischem und kurdischem Hintergrund, die mit der nächsten Generation kritisch diskutieren. All das nicht von oben herab. Sondern gemeinsam mit den vielen klugen und kritischen Köpfen in der türkischen und kurdischen Community.

Wäre damit alles gut? Nein. Es wäre naiv, zu glauben, dass sich ausschließlich dadurch ideologische Positionen verändern würden, die teils über Jahrzehnte gewachsen sind. Wer es nicht glaubt, soll sich die Geschichte Österreichs ansehen. Doch es wäre ein Anfang.

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