Verschwundene Stimmzettel, seltsame Wahlergebnisse und immer neue Verhaftungswellen. Kathrin Niedermoser war als Wahlbeobachterin in der Türkei. Warum sie nicht glaubt, dass diese Wahlen sauber waren.

  • Von Kathrin Niedermoser

Wie viele Journalist:innen derzeit in der Türkei im Gefängnis sind? Das kann mir die junge Journalistin bei unserem Gespräch nicht sagen: “Wir haben irgendwann den Überblick verloren. Es sind hunderte. In den Redaktionen herrscht inzwischen ein Kommen und Gehen. Oft wird auch indirekt Druck ausgeübt. So wird zum Beispiel Familienangehörigen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, mit der Kündigung gedroht.”

Ich habe die Journalistin in Van getroffen, einer Region im kurdisch geprägten Südosten der Türkei. Ihr Name darf nicht veröffentlicht werden: Sie hat Angst. Und so geht es nicht nur ihr, wie sie beschreibt: “In den Redaktionen herrscht Angst, viele Kolleg:innen wollen nur noch in der Chronikabteilung arbeiten und keine politische Berichterstattung mehr machen.” Viele sind inhaftiert, sagt sie, oder befinden sich in laufenden Verfahren. “Und nicht wenige haben überhaupt aufgehört, journalistisch zu arbeiten oder sind ins Ausland geflüchtet.“

Bewaffnete in den Wahllokalen

Am Tag des ersten Wahlgang, dem 14. Mai, sehe ich dann selbst, wovon die Journalistin spricht. So wird etwa das Parteibüro der linken und pro-kurdischen Partei HDP in der kurdischen 20.000-Einwohner:innenstadt Diyadin von schwer bewaffneten Sondereinheiten und dem Geheimdienst regelrecht belagert. “Das machen sie zur Machtdemonstration und um der Bevölkerung zu sagen, dass sie uns nicht wählen sollen”, sagt mir ein örtlicher HDP-Funktionär. Die HDP ist in den meisten mehrheitlich kurdischen Gebieten die Mehrheitspartei.

Die Militärpräsenz wirkt vor allem auf die kurdische Bevölkerung einschüchternd: “Sobald das Militär im Dorf ist, verlässt meine Großmutter das Haus nicht mehr. So geht es vielen”, erzählt mir die 24-jährige Studentin Figen* aus der kurdischen Region Aĝri. (Ihren Namen haben wir auf Ihren Wunsch und zu ihrem Schutz geändert.) Figen* sagt: “In beinahe jeder Familie in den kurdischen Gebieten sitzt jemand im Gefängnis, wurde von Polizei oder Militär verletzt oder getötet oder ist ins Ausland geflohen.”

Sogar bis in die Wahllokale ziehen sich die Einschüchterungen. Sie sind dokumentiert und einiges konnte ich auch selbst beobachten. So ist  es etwa Polizei und Militär gesetzlich untersagt, sich auf weniger als 50 Meter den Wahllokalen zu nähern. Dennoch waren an vielen Orten bewaffnete Polizisten und Militärangehörige vor und  in den Wahllokalen.

Enttäuschte Hoffnungen

Die Hoffnung war groß, dass Recep Tayip Erdoğan mit seiner Partei AKP bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai abgewählt werden könnte. Diese wurden vorerst nicht erfüllt und erst die Stichwahl wird zeigen, ob Erdoğan tatsächlich gestürzt werden kann. Die Chancen dafür stehen freilich schlecht.

Erdoğan kann sich immer noch auf eine breite Basis in der Bevölkerung stützen. Dazu wird er nun auch noch von Sinan Oğan unterstützt, dem rechtsextremen dritten Kandidaten um das Präsidentschaftsamt, der im ersten Wahlgang fünf Prozent der Stimmen erhalten hatte. Noch mehr nach rechts gerückt zwischen den beiden Wahlgängen ist allerdings auch Erdoğans Hauptkonkurrent, Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP.

Rechtsruck der Opposition vor dem zweiten Wahlgang

So verspricht Kılıçdaroğlu etwa inzwischen, alle Flüchtlinge aus der Türkei zu deportieren. Dazu ist der Sozialdemokrat nun auch ein Bündnis mit Ümit Özdağ eingegangen, dem Vorsitzenden der berüchtigten Zafer Partei (Partei des Sieges). Diese faschistische Partei hat als Hauptziel die Agitation gegen flüchtende Menschen. Es ist offensichtlich der verzweifelte Versuch, rechte Stimmen zu gewinnen. Doch das könnte Kılıçdaroğlu vor dem zweiten Wahlgang gleichzeitig vor allem in den kurdischen Gebieten und in linken und liberalen urbanen Milieus entscheidend schwächen.

Dabei war das Bündnis der Opposition schon bisher ziemlich rechtslastig. In diesem Bündnis aus sechs Parteien saßen neben der CHP schon bisher nur extrem rechte, konservative und islamistische Parteien, etwa die İyi Partei (Gute Partei). Diese zweitgrößte Partei im sogenannten “Sechser-Tisch” ist eine Abspaltung der faschistischen Grauen Wölfe (MHP), also der Koalitionspartnerin von Erdoğans AKP. Ebenfalls im Bündnis: Die Saadet (Partei für Glückseligkeit), ein Teil der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung.

Die linke und kurdisch dominierte HDP hat das Bündnis von außen unterstützt. Sie konnte diesmal allerdings nicht einmal unter dem eigenen Namen antreten. Zu groß schien die Gefahr, dass die Partei noch während des Wahlkampfes von der Regierung verboten wird. Es ist nur einer von vielen Gründen, warum in der Türkei nicht von fairen Wahlen gesprochen werden kann. Stattdessen stand die HDP als Grüne linke Partei (YSP) auf dem Stimmzettel zur Parlamentswahl, die gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl stattfand. Zur Präsidentschaftswahl trat die YSP nicht an, sondern unterstützte Kılıçdaroğlu.

Die Regierung hat fast alle Medien unter Kontrolle

Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ kontrolliert Präsident Erdoğan inzwischen direkt oder indirekt 90 % aller Medien in der Türkei. Hunderte kleine Zeitungsredaktionen, Radiostationen und Online-Nachrichtenportale wurden in den letzten Jahren geschlossen. Dazu wurden die großen unabhängigen TV-Sender wie Fox News oder Halk TV mit Geldstrafen eingedeckt. Dazu wurde auch die Medienaufsichtsbehörde RTÜRK mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, um regierungskritische Berichterstattung zu zensurieren.

Der staatliche Fernsehsender TRT ist ohnedies zum Propaganda-Kanal für Erdoğan verkommen. So erhielt der aktuelle Präsident vor den Wahlen insgesamt 48 Stunden Live-Redezeit, sein Koalitionspartner Devlet Bahçeli nochmals 28 Stunden. Er ist der Vorsitzende der faschistischen MHP (“Partei der Nationalistischen Bewegung“, besser bekannt als Graue Wölfe). Währenddessen musste sich Oppositionsführer Kılıçdaroğlu mit gerade einmal 32 Minuten (!) begnügen. 

Repression gegen Oppositionelle

Dazu geht die Regierung seit Jahren mit massiver Repression gegen die Opposition vor, insbesondere gegen die HDP. Der ehemalige Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş sitzt im Gefängnis, ebenso wie über 6.000 weitere Mitglieder der Partei. Unter den Inhaftierten sind zahlreiche ehemalige Abgeordnete, Bürgermeister:innen und andere Funktionsträger:innen. Hunderte Parteimitglieder und Funktionäre:innen sind ins politische Exil geflüchtet, dazu wurden auch die Konten der Partei zu Beginn des Jahres vorübergehend eingefroren – ein weiterer schwerer Angriff in einem Wahljahr.

In den Wochen vor der Wahl kam es dann erneut zu einer Verhaftungswelle, von der neben HDP-Mitgliedern auch NGO-Aktivist:innen, Anwält:innen und Journalist:innen betroffen waren. Und dazu läuft gegen die gesamte Partei ein Verbotsverfahren. Eine weitere Hürde: Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, sie machte es vor allem für die Oppositionsparteien schwierig, Wahlkampfveranstaltungen durchzuführen.

Wahlkampf im Käfig, abgeschobene Wahlbeobachter:innen

So müssen die Veranstaltungsorte mit zwei Meter hohen Zäunen abgesperrt werden. In den Tagen vor dem ersten Wahlgang habe auch ich solche Kundgebungen beobachtet. Ich hatte dort mehr das Gefühl, in einem Käfig zu sein als bei einer politischen Versammlung. Zusätzlich sind bei den Zugangsstraßen Wasserwerfer und gepanzerte Polizeifahrzeuge stationiert. Es erzeugt ein Gefühl von Beklemmung und Angst. Und genau das ist offensichtlich das Ziel.

Der undemokratische Charakter der Wahl zeigte sich am Wahltag auch im Umgang mit internationalen Wahlbeobachter:innen. So wurde die österreichische Parlamentsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne) nach eigenen Angaben von einem Polizisten mit der Hand an der Waffe daran gehindert, ein Wahllokal zu betreten. Die von der HDP eingeladene Wahlbeobachtungs-Delegation in der Region Aĝri wurde am Wahltag bis spät in die Nacht von der Zivilpolizei verfolgt, wie ich selbst erlebt habe.

Drei Wahlbeobachter:innen aus Spanien, die ebenfalls auf Einladung der HDP in den kurdischen Gebieten waren, wurden in der Provinz Siirt sogar inhaftiert und abgeschoben. Unter ihnen ein Parlamentarier der linken Partei PODEMOS. Wer nichts zu befürchten hat, schränkt üblicherweise auch die Wahlbeobachtung nicht ein. Doch die Regierung dürfte hier einiges zu verbergen haben.

Vor dem Hintergrund der medialen Überpräsenz von Erdoğan, der Repression gegen die Opposition und der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, kann also kaum von freien und fairen Wahlen nach bürgerlich-demokratischen Standards gesprochen werden. Das attestierte nach dem ersten Wahlgang auch die Wahlbeobachtungs-Kommission der OECD.

Millionenfacher Wahlbetrug?

Die Angst, dass es zu Wahlbetrug in großem Stil kommen könnte, war bereits im Vorfeld groß. Berechtigt, wie sich dann am Wahlabend zeigte. Besonders schwer wiegen jene dokumentierten Fälle, bei denen die Ergebnisse der Wahllokale “falsch” in das elektronische System eingegeben wurden. In den bisher veröffentlichten und dokumentierten Fällen lässt sich ein und dasselbe Muster feststellen: Die Stimmen der pro-kurdischen YSP wurden bei den Wahlbehörden Erdoğans Koalitionspartner, der rechtsextremen MHP, zugeschrieben. Auf Twitter wurden in der Wahlnacht und am Tag nach der Wahl hunderte dieser Fälle quer durch das ganze Land bekannt gemacht.

Die YSP legte in 1000 Fällen Einspruch ein, woraufhin die Ergebnisse korrigiert wurden. Die CHP gibt an, dass sogar in über 7.000 Fällen die Protokolle der Wahlkommissionen falsch in das elektronische System eingegeben worden seien. Die linke Türkische Arbeiter Partei (TİP), die mit vier Sitzen im Parlament vertreten ist, spricht von 4,2 Millionen Stimmen in 20.000 Wahlurnen, die zu hinterfragen seien. Als Indiz dafür sieht die Partei die stark schwankende Wahlbeteiligung, die sich nicht über regionale Besonderheiten erklären ließe. Zudem gibt es laut TİP 5000 Wahlurnen mit beinahe einer halben Million Stimmen, bei denen die Wahlbeteiligung bei über 100 % lag.

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Woher kommen all diese Stimmen für Erdoğan?

Laut Birol Aydemir von der extrem rechten Oppositionspartei İYİ seien noch mehr Stimmen fraglich. Er spricht von sechs Millionen Stimmen in 22.000 Wahlurnen, die nicht nachvollziehbar seien. Er weist unter anderem auf die guten Ergebnisse für die Regierung in jenen Gebieten hin, wo es Anfang Februar dieses Jahres ein großes Erdbeben gab. Das Beben hatte mindestens 50.000 Menschenleben gekostet – und in den Untersuchungen danach war rasch klar geworden, dass Korruption und fehlende Sicherheitsstandards ein zentraler Grund für die vielen Toten gewesen waren. 

Das Forschungsinstitut für Datenanalyse Polimetre spricht bei der Präsidentschaftswahl von 1,6 Millionen Stimmen für Erdoğan, die, statistisch betrachtet, nicht nachvollziehbar seien. Hinzu kämen Wahlurnen mit einer Wahlbeteiligung von 90 bis 120 %. Nicht zuletzt in Erdbeben-Provinzen wie Gaziantep, Adana oder Diyarbakır sieht das Forschungsinstitut Hinweise für Unregelmäßigkeiten. 

Auch der Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Timur Kuran bezeichnet die Ergebnisse in den Erdbebengebieten noch in der Wahlnacht als suspekt. Andererseits begründet der Rechtsanwalt Ali Bilgin aus Hatay das gute Ergebnis in den Erdbebengebieten auch damit, dass die AKP ihrer Basis über parteinahe Organisationen, Kommunalverwaltungen und religiöse Stiftungen überdurchschnittlich viel Unterstützung zukommen ließ. 

Zu viele Fragezeichen

Viele regierungskritische Journalist:innen und Wissenschaftler:innen gehen jedenfalls von einem landesweiten Wahlbetrug aus. In welchem Umfang dieser stattgefunden hat, kann jedoch niemand sagen. Der Journalist und Ökonom Mustafa Sönmez meint dazu gegenüber der linken Tageszeitung BirGün:Es gibt viele Fragezeichen, ob dieses Ergebnis eindeutig der Wille der Wähler ist oder ob es sich um einen Betrug handelt. Ich bin mir da nicht sicher.” Doch er stellt auch eine wichtige Frage in den Raum: “Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan, weil im 0,5 % fehlen, in eine Stichwahl geht, halte ich für gering. Er hätte auch noch einmal auszählen lassen können.”

Das wäre bei so einem knappen Ergebnis jedenfalls nicht ungewöhnlich. Dass Erdoğan das nicht gemacht hat, belegt für viele Menschen in der Türkei, dass der Wahlbetrug in einem höheren Ausmaß stattgefunden hat, als bisher belegt ist. Andere Stimmen wiederum sehen in der Stichwahl lediglich einen Schachzug, um den Wahlen einen demokratischen Anschein zu geben. 

Und während immer mehr Fälle von Wahlbetrug oder Unregelmäßigkeiten bekannt werden, nimmt die Repression gegen die Bevölkerung und Opposition zu. Vor allem in den Städten und Regionen mit guten Ergebnissen für die pro-kurdische YSP oder Erdoğan-Herausforderer Kılıçdaroğlu rollte in den letzten Tagen vor der Stichwahl erneut eine Verhaftungswelle. Wieder wurden hunderte HDP-Mitglieder, Anwält:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen festgenommen. 

Von bürgerlich-demokratischen Verhältnissen kann in der Türkei also schon lange nicht mehr gesprochen werden. Das haben diese Wahlen einmal mehr gezeigt. In welchem Ausmaß direkt am Wahltag betrogen wurde, das wissen wir heute noch nicht – und werden es möglicherweise auch niemals erfahren. Doch der Betrug bei dieser Wahl kann nicht nur mit den Ereignissen am Wahltag bemessen werden. Das Problem reicht viel tiefer: Eine Wahl, wo die Regierung für die Opposition den Zugang zu den meisten Medien unmöglich macht. Eine Wahl, wo oppositionelle Aktivist:innen ins Gefängnis gesperrt werden und wichtigen Oppositionsparteien sogar unmittelbar das Verbot droht – das ist keine “Wahl”, die diesen Namen verdient. Das ist Betrug.

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