„N“ wie „Nordpol“, „S“ wie Siegfried und „Z“ wie „Zeppelin“. Ganz normal? Nein! Früher gab es viele jüdische Namen zum Buchstabieren. Doch viele von uns verwenden bis heute unbewusst Nazi-Propaganda.

Meinen Nachnamen muss ich buchstabieren, seitdem ich ein Kind bin. Ich sage „Bonvalot“, das Gegenüber schaut mich fragend an. Also fange ich an: „B“ wie „Berta“, „O“ wie „Otto“, und so weiter. Und seit ich ein Kind bin, verwende ich für das „N“ in meinem Namen den Begriff „Nordpol“. So habe ich es gelernt. Was ich allerdings lange nicht wusste: Ich verwende damit Nazi-Propaganda.

„Geeignete deutsche Namen“

Am 22. März 1933, also kurz nach der Machtergreifung der Nazis, schreibt ein gewisser Joh. Schliemann einen Brief an die neuen NS-Behörden. Er würde es in „Anbetracht des nationalen Umschwungs in Deutschland“ nicht mehr für angebracht halten, in der Buchstabiertabelle „jüdische Namen“ zu verwenden. Der „besorgte Bürger“ Schliemann beklagt sich unter anderem über „David“ für „D“, „Nathan“ für „N“ und „Samuel“ für „S“.

Ein österreichischer Fernsprecher vor dem Zweiten Weltkrieg, rechts unten das Buchstabier-Alphabet. Die meisten jüdischen Namen sind noch vorhanden. Bild: MikroLogika, CC BY-SA 4.0

Mit diesen jüdischen Namen wurde bis dahin buchstabiert. Stattdessen sollten sich doch bitte „geeignete deutsche Namen finden lassen“. Dieser Brief soll der Ausgang für umfangreiche Änderungen im Buchstabier-Alphabet gewesen sein – bereits 1934 erscheinen sie erstmals im amtlichen Telefonbuch Deutschlands: Die jüdischen Begriffe sind ausgelöscht.

Und diese Änderungen durch das NS-Regime wurden nach 1945 teils einfach beibehalten – in Österreich wurde die Nazi-Version sogar fast unverändert übernommen. Und deshalb buchstabieren viele Menschen bis heute mit Begriffen, die das NS-Regime erfunden hat.

Die Nazis haben fast die Hälfte der Begriffe gelöscht

Bis zur Machtübernahme der Nazis hatten die Menschen in Österreich und Deutschland noch ganz anders buchstabiert als heute. Doch die Nazis haben gleich 14 Begriffe aus der Buchstabier-Tafel getilgt. Zur Einordnung: Das deutsche Alphabet hat insgesamt 30 Buchstaben – und da sind ä, ö, ü und ß bereits inklusive. Die Nazis haben also fast die Hälfte des gesamten Buchstabier-Alphabets geändert.

Zuständig für die Buchstabiertafel ist in Deutschland heute das Deutsche Institut für Normung (DIN). Sprecher Julian Pinnig verweist zur Entwicklung der Tafel auf die entsprechende Seite von Wikipedia. Ich habe eine gesicherte Version der Seite erstellt, diesen „Permalink“ habe ich hier für euch gesichert.

Jüdische Namen auslöschen, Nazi-Ideologie verbreiten

Und der Vergleich der verschiedenen Versionen zeigt: Die Nazis löschen aus dem Buchstabier-Alphabet vor allem deutsch-hebräische Vornamen wie „David“, „Jacob“, „Nathan“, „Samuel“ und „Zacharias“. Auch „Theodor“, „Heinrich“ und „Friedrich“ verschwinden.

Stattdessen werden Begriffe eingeführt, die den Nazis weit besser ins ideologische Konzept passten. So wird etwa aus dem jüdischen Vornamen „Nathan“ für „N“ plötzlich „Nordpol“. Und das ist keine zufällige Entscheidung: Denn „Nordpol“ ist ein Symbol für den Rassenwahn der Nazis.

„Nordpol“ als versteckte Nazi-Propaganda

Hitler selbst hatte bereits 1920 bei seiner Rede „Warum wir Antisemiten sind“ entsprechenden Unsinn verbreitet. So behauptete er, dass sich die Ur-Germanen („Arier“) angeblich „in grauer Vorzeit“ in den nordischen „Eiswüsten“ zu einem „Geschlecht von Riesen“ entwickelt hätten. Danach hätte diese „Arier“ quasi die Welt zivilisiert. Selbstverständlich ist all das blanker Schwachsinn.

Der Homo Sapiens ist aus den warmen Regionen in Asien und Afrika nach Europa eingewandert und selbstverständlich nicht vom Nordpol. Es ist heute allerdings schon einiges Vorwissen nötig, um „Nordpol“ als Nazi-Propaganda zu entlarven. Wesentlich deutlicher wird es bei einer anderen Änderung, die die Nazis vorgenommen hatten.

„Zeppelin“ – wenn der Nazi-Traum in Flammen aufgeht

So wird aus dem jüdischen Vornamen „Zacharias“ für „Z“ unter den Nazis plötzlich „Zeppelin“. Und diese Zeppeline, große Luftschiffe, erfüllten für die Nazis eine wichtige propagandistische Funktion: NS-Luftwaffenchef und Kriegsverbrecher Hermann Göring lässt 1935 sogar eine eigene „Deutsche Zeppelin-Reederei“ gründen.

Mit diesen Zeppelinen werden dann etwa Flugrouten nach New York eingerichtet, die propagandistisch genutzt werden: Ein riesiges Hakenkreuz prangt unübersehbar an der Heckflosse. Die NS-Propaganda findet allerdings 1937 ein schnelles Ende, als das NS-Flugschiff Hindenburg sich in Flammen auflöst.

Die Hindenburg mit gut sichtbarem Hakenkreuz über New York. Wenige Stunden nach Aufnahme dieses Bildes verbrannte die Hindenburg.

Das damals größte Luftschiff der Welt brennt bei einer Landung am Flugfeld Lakehurst im Süden von New York vollständig aus, wobei 36 Personen sterben. Die Bilder des verbrannten NS-Propagandaschiffs gehen um die Welt.

Giftgas als Hilfe beim Buchstabieren

Besonders zynisch ist eine weitere Änderung der Nazis: „Ypsilon“ wird durch „Ypern“ ersetzt. Auf den ersten Blick unscheinbar. Doch in der belgischen Stadt Ypern testeten deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg erstmals den Einsatz des mörderischen Chlorgases.

Tausende Soldaten ersticken allein an diesem Tag am Giftgas, viele weitere werden schwer verletzt. Insgesamt 90.000 Soldaten werden im Ersten Weltkrieg an Gas sterben. Und die Nazis wollen das Giftgas offensichtlich bereits 1933 positiv in der Bevölkerung verankern.

Die Nazis wollen „Übel“ statt „Überfluss“

Eine Änderung der Nazis ist übrigens besonders bezeichnend: Bis 1934 wurde der Buchstabe „Ü“ noch mit „Überfluss“ buchstabiert. Doch die Nazis machten dann „Übel“ daraus. Auch diese Änderung wurde in Österreich nie rückgängig gemacht.

„Überfluss“ sollte es im NS-Regime offensichtlich keinen mehr geben – das hätte ja die Vision einer besseren Welt in die Gehirne pflanzen können. Doch „Übel“ und „Nazis“ – das passt tatsächlich sehr gut zusammen.

Heldensagen von Antisemit Wagner

Auch „Samuel“ für den Buchstaben „S“ verschwindet unter den Nazis. Stattdessen wird nun der Name „Siegfried“ eingeführt. Die Propaganda ist hier ebenfalls erst auf den zweiten Blick erkennbar, doch sie passt perfekt zum NS-Regime. Denn Siegfried („der Drachentöter“) ist eine Heldenfigur in der germanischen „Nibelungensage“.

Der Antisemit und Komponist Richard Wagner hatte diese Sage in den 1870er Jahren als Thema seiner Oper „Siegfried“ übernommen. Die Nazis feiern ihn dafür: Adolf Hitler selbst ist glühender Wagner-Fan, mit der Familie Wagner hat er engsten Kontakt. Heute ist „Siegfried“ wohl nicht mehr als NS-Propaganda erkennbar, doch im NS-Regime ist die Botschaft offensichtlich.

In Österreich werden die Nazi-Begriffe einfach beibehalten

Das Ziel der Nazis ist offensichtlich: Die jüdische Geschichte Österreichs und Deutschlands soll schlichtweg ausgelöscht werden. Und absurderweise haben sich die Nazis damit sogar bis heute großteils durchgesetzt: In Österreich waren große Teile des Nazi-Alphabets sogar bis in die jüngste Zeit die offizielle Vorgabe.

Geregelt war dies in der sogenannten „ÖNORM“ mit der Nummer 1081. Und diese „ÖNORM“ hat NS-Propagandabegriffe wie „Siegfried“ und „Nordpol“ einfach beibehalten, auch kein einziger der gelöschten jüdischen Namen wurde nach 1945 wiederhergestellt.

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Einzig „Zeppelin“ für „Z“ wurde irgendwann wieder verändert. Allerdings nicht etwa auf den ursprünglich verwendeten jüdischen Namen „Zacharias“, sondern auf „Zürich“. Wann genau das passiert ist, kann Austrian Standards (AS) auf meine Anfrage nicht beantworten. AS ist jene Institution, die für die ÖNORM verantwortlich ist.

Buchstabieren wie die Nazis

Jahrzehntelang haben also Kinder in Österreich Schulen offiziell gelernt, wie die Nazis zu buchstabieren. Und auch die meisten Menschen in Österreich werden wohl bis heute die NS-Version verwenden. Die zugehörige ÖNORM 1081 wurde erst im Jahr 2019 zurückgezogen. Doch nicht etwa wegen der politischen Problematik, sondern weil sie keine „Marktrelevanz“ mehr gehabt hätte, sagt AS-Sprecherin Mirjana Verena Mully auf meine Anfrage. Es gibt auch keine Nachfolgeregelung.

Das ist eine alternative Buchstabier-Tafel zu der in Österreich aktuell gebräuchlichen Version. Bei der Vor-Nazi-Version wurde das heute völlig ungebräuchliche „Xanthippe“ durch „Xaver“ ersetzt.

Und das bedeutet: Erst 80 Jahre nach Ende des NS-Regimes werden nun in Österreich die ersten Kinder eingeschult, die nicht mehr wie die Nazis buchstabieren müssen. Doch nachdem es bis heute keine offizielle Nachfolgeregelung gibt, können wir wohl davon ausgehen, dass in vielen Bildungseinrichtungen weiter die NS-Buchstabiertafel unterrichtet wird.

Eine Bekannte hat mir etwa ihre Lernunterlagen für die Deutschprüfung auf Niveau B2 zur Verfügung gestellt, diese Prüfung braucht sie für die Staatsbürger:innenschaft. Die Prüfung hat sie Ende 2024 gemacht, das Buchstabier-Alphabet in den Unterlagen entspricht der zurückgezogenen ÖNORM – und damit weitgehend der NS-Version. Damit wird auch für alle Menschen, die Deutsch lernen, die jüdische Geschichte ausgelöscht.

Warum ist in Österreich nach 1945 nichts passiert?

Warum die NS-Propaganda in Österreich nach 1945 nicht konsequent zurückgezogen wurde? Das kann auch bei „Austrian Standards“ nicht beantwortet werden. AS erstelle die Normen nicht selbst, sondern koordiniere „das Fachwissen externer Expert:innen“, so Sprecherin Mully.

Damit wäre es also sehr interessant, warum diese Entscheidungen getroffen wurden, wer sie getroffen hat und wer für die Zusammensetzung der Gremien verantwortlich war. Es gäbe leider keine Möglichkeit, die Frage zu beantworten oder die beteiligten Expert:innen zu befragen, „da das Komitee inzwischen aufgelöst wurde“, sagt Mully. Namen von Komitee-Mitgliedern könnten aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht weitergegeben werden.

In Deutschland wurde (viel zu spät) endlich gehandelt

In Deutschland wurden zumindest einzelne Begriffe bereits 1948 bzw. 1950 wieder rückgängig gemacht: So wurde „S“ wieder zu „Samuel“ statt „Siegfried“ und „Z“ zu „Zacharias“ statt „Zeppelin“. Doch andere NS-Begriffe blieben weiter in Gebrauch, etwa „Nordpol“ oder „Dora“. Und das „J“, das vor 1933 mit „Jacob“ buchstabiert worden war, wurde zwar nach 1945 ebenfalls verändert. Allerdings nicht etwa zurück auf den jüdischen Namen „Jacob“, sondern auf „Julius“.

Größere Änderungen gab es dann (endlich und viel zu spät) im Jahr 2020. Da wurde in Deutschland nach längeren Diskussionen über die NS-Problematik die Buchstabiertafel der Weimarer Republik symbolisch wieder in Kraft gesetzt. Und seit 2022 gibt es überhaupt eine neue und sehr sinnvolle Lösung.

Statt Vornamen werden inzwischen in Deutschland Städtenamen wie „Berlin“ für „B“, „Leipzig“ für „L“ oder Offenbach für „O“ verwendet. Die bisherige Namensverteilung hätte auch wegen des Überhangs von männlichen Vornamen „nicht der heutigen Lebensrealität“ entsprochen, erklärte 2021 das Deutsche Institut für Normung (DIN). Eine kluge Lösung – doch warum wird diese nicht auch in Österreich umgesetzt?

Austrian Standards will nichts ändern

Warum also macht Austrian Standards nicht ebenfalls einen klaren Schnitt, so wie es das deutsche DIN getan hat? Eine ÖNORM gäbe es nur bei einem „konkreten Bedarf“, so AS-Sprecherin Mully. Und der wäre hier nicht gegeben, das hätte eine „Umfrage bei den betroffenen Kreisen und Expert:innen“ ergeben. Wer diese sind, wird – wie gesagt – nicht bekanntgegeben.

Wer bestimmt also, ob es einen „konkreten Bedarf“ gibt? Warum gibt es diesen Bedarf in Deutschland, aber nicht in Österreich? Wer bestimmt, dass die NS-Propaganda in Österreich bis heute nicht durch eine andere Version ersetzt wird? Offensichtlich braucht es hier eine politische Lösung. Als nächstes frage ich also beim Bildungsministerium nach.

Das Bildungsministerium sieht keinen Handlungsbedarf

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Bildungsminister ist seit März 2025 Christoph Wiederkehr von den Neos, er gilt als Bildungsexperte der Neoliberalen. Ministeriums-Sprecherin Susanne Leitner sagt auf meine Anfrage, dass in Schulbüchern inzwischen „beispielsweise“ auf die deutsche DIN oder den Duden referenziert würde. Ein „Handlungsbedarf zu einer eigenen Normensetzung“ werde „derzeit nicht gesehen“.

Doch das bedeutet in der Konsequenz: Mit dieser Nicht-Lösung gibt es weiter keine öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Version – und damit auch kein Bewusstsein dafür, dass viele von uns bis heute NS-Propaganda statt der jüdischen Namen verwenden.

Das muss gelöst werden!

In Schulen und Bildungseinrichtungen muss die NS-Version heute zumindest nicht mehr als offizielle Version verwendet werden – das sollten auch alle Deutschlehrer:innen wissen. Doch das ist natürlich immer noch viel zu wenig. Wirkliche Änderungen wird es erst geben, wenn es eine neue „offizielle“ Version gibt, also eine neue ÖNORM. Das könnte entweder eine – angepasste Version – des Buchstabieralphabets vor 1938 sein. Oder, noch besser, eine neue Version, etwa mit Ortsnamen. Doch offensichtlich sind aktuell weder das Bildungsministerium noch Austrian Standards dazu bereit.

Was wir selbst tun können? Die früheren Begriffe wieder verwenden! Ich habe etwa begonnen, meinen Namen mit „Nathan“ für „N“ zu buchstabieren und nicht mehr mit „Nordpol“. Doch solche individuellen Entscheidungen können eine politische Lösung nicht ersetzen. Denn das Buchstabier-Alphabet in Österreich ist bis heute ein weiteres Symbol der Kontinuität vom NS-Regime bis in die Gegenwart. Und das sollte sich dringend ändern.

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