Der Einmarsch in Polen als Beginn des 2. Weltkriegs? Am 8. Mai 1945 war alles zu Ende? Beides ist falsch. Und gab es überhaupt zwei getrennte Weltkriege?

In West- und Zentraleuropa wird der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom Faschismus gefeiert. Ein wichtiger Gedenktag und für viele Menschen das Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch stimmt das so? Ein Beitrag gegen den Eurozentrismus.

Bereits ein wenig weiter östlich, in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, gilt als “Tag des Sieges” nicht der 8. Mai, sondern der 9. Mai. Das wäre übrigens auch für Österreich und Deutschland der korrekte Feiertag. Juristisch endete der Krieg zwar tatsächlich am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Doch tatsächlich war am 8. Mai selbst gar nichts passiert. Offiziellen Charakter bekam die Kapitulation des “Dritten Reiches” erst am 9. Mai.

Eine erste Kapitulation der Nazis hatte es bereits am 7. Mai im französischen Reims gegeben. Am 8. Mai sollte die Kapitulation in Berlin dann nochmals vom Oberbefehlshaber der Wehrmacht unterzeichnet und ratifiziert werden. Doch es gab zeitliche Pannen, daher wurde die Kapitulation erst kurz nach Mitternacht unterzeichnet: Am 9. Mai gegen 00.15 Uhr.

Die Kapitulation der Wehrmacht

Auch danach kämpften trotz Kapitulation einzelne Verbände der Wehrmacht weiter. Ihr Ziel: Sie wollten sich nach Westen durchschlagen und lieber von den Westalliierten gefangen genommen werden als von der Roten Armee. Die Nazis hatten Millionen von Menschen aus der Sowjetunion ermordet. In Ostpreußen zog sich die Kapitulation der Wehrmacht sogar noch bis zum 14. Mai. Doch der Zweite Weltkrieg war auch am 14. Mai noch lange nicht vorbei.

Die Kapitulation Japans als Endpunkt – mehr oder weniger

Tatsächlich endete der Zweite Weltkrieg erst im September 1945. Am 2. September 1945 unterzeichnete das Kaiserreich Japan die Kapitulation. Dem vorausgegangen war die Zündung von zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Am 12. September schließlich kapitulierten die letzten japanischen Truppen in Singapur. Erst ab diesem Tag kann der Zweite Weltkrieg also als beendet betrachtet werden.

Bis heute ist umstritten, ob der Abwurf der Atombomben durch die USA primär militärische Ziele verfolgte – oder ob er als Botschaft an die Sowjetunion für die Neuordnung der Welt nach dem Krieg dienen sollte. Möglicherweise haben auch beide Interpretationen eine gewisse Berechtigung, wenn sie zusammengedacht werden: Eine komplette militärische Eroberung Japans samt Anlandung von Truppen hätte wohl weitere hunderttausende tote US-Soldaten und enorme Ressourcen gekostet. Die Atombombe beendete den Krieg aus US-Sicht dagegen relativ kostengünstig.

Der Abwurf der Atombombe über Nagasaki.

Doch es wird im Weißen Haus wohl auch durchaus mitgedacht worden sein, dass die sichtbaren Auswirkungen der Atombombe auch eine scharfe Warnung an die sowjetische Führung darstellten. Als Japan schließlich kapitulierte, endete somit auch der Zweite Weltkrieg. In Griechenland allerdings geht der Kampf gegen den Faschismus unmittelbar in den Kalten Krieg über.

Griechenland und die Kolonien

Als die deutsche Wehrmacht im Oktober 1944 aus Griechenland abzog, kontrollierte die KP-dominierte Befreiungsbewegung EAM/ELAS große Teile des Landes. Britische Truppen landeten – und verbündeten sich mit griechischen Faschist:innen und Reaktionären. So sollte die Griechische Volksbefreiungsarmee (ELAS) militärisch zurückgezudrängt werden. Bereits im Dezember 1944 wurde in den Straßen von Athen erneut gekämpft und geschossen. Auf der einen Seite die ELAS, auf der anderen Seite griechische Faschist:innen sowie britisches Militär.

Partisan:innen der linken ELAS in Griechenland.

Der griechische Bürger:innenkrieg endete schließlich erst 1949 mit der Niederlage der ELAS. Ein wesentlicher Grund dafür: Zwischen den “Alliierten”, also den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, war vereinbart worden, dass Griechenland dem “Westen” zugeschlagen würde. Damit gab es keinerlei Unterstützung aus der Sowjetunion für die ELAS, während vor allem Großbritannien die extreme Rechte stützte. Und auch in den Kolonien ist die Sache nicht so einfach.

So ist etwa in Algerien der 8. Mai 1945 vor allem als Jahrestag des Massakers von Sétif bekannt. Französische Kolonialtruppen töteten nach einem antikolonialen Aufstand bis zu 45.000 Menschen, genaue Zahlen sind bis heute nicht verfügbar. Und auch viele antikoloniale Befreiungsbewegungen können nicht unabhängig vom Ausgang des Weltkriegs gedacht werden: Etwa die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans von Großbritannien 1947, der Sieg der Stalinist:innen in der chinesischen Revolution 1949, der Sieg der vietnamesischen KP in Nord-Vietnam gegen Frankreich oder der Koreakrieg als Stellvertreter:innenkrieg zwischen der Sowjetunion und dem “Westen”.

Das Massaker von Sétif

Doch das Ende des Zweiten Weltkriegs selbst kann mit der Kapitulation Japans dennoch recht klar angegeben werden. Für seinen Beginn dagegen gibt es völlig unterschiedlichen Daten und Interpretationen. In In West- und Zentraleuropa wird der Beginn des Krieges mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 angesetzt. In den USA dagegen ist vor allem der eigene Kriegseintritt mit dem Angriff japanischer Truppen auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 entscheidend.

Auch die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten setzen den “Großen Vaterländischen Krieg” mit dem eigenen Kriegseintritt 1941 an. Dabei wird gerne verschwiegen, dass der Stalinismus zuvor durch den “Hitler-Stalin-Pakt” (in Russland oder der Ukraine bekannt als Molotow-Ribbentrop-Pakt) sogar mit dem NS-Regime verbündet gewesen war.

Der Zweite Weltkrieg hat in Asien begonnen

Doch weder 1939 noch 1941 sind als Zeitmarken für den Beginn des Zweiten Weltkriegs umfassend tauglich. Denn in Ostasien tobte der Pazifikkrieg zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren.

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Genau wie in Europa war in Ostasien die Frage der Kontrolle über Einflussgebiete und Kolonien die zentrale Kriegsfrage. Bereits 1931 marschierten faschistische japanische Truppen in die chinesische Mandschurei ein. Manche Historiker:innen in Japan setzen bereits hier den Beginn des Zweiten Weltkriegs an und nennen den Zweiten Weltkrieg deshalb den “15-jährigen Krieg”.

Der eindeutige Beginn des Zweiten Weltkriegs in Ostasien ist aber spätestens der zweite japanisch-chinesische Krieg, der am 7. Juli 1937 begann. Die japanische Faschist:innen begingen dabei unfassbare Kriegsverbrechen an der chinesischen Zivilbevölkerung, die den Gräueln der Nazis um nichts nachstehen. In der Weltöffentlichkeit wurde dabei vor allem das “Massaker von Nanking” ab dem 13. Dezember 1937 bekannt.

Allein dort ermordeten japanische Truppen binnen weniger Wochen bis zu 300.000 Menschen und folterten und vergewaltigten sie oft zuvor auf grausamste Weise. Insgesamt ermordeten die japanischen Faschist:innen mehrere Millionen Zivilist:innen in Asien. Dieser japanisch-chinesische Krieg setzte sich als eine der Fronten des Zweiten Weltkriegs unmittelbar bis 1945 fort.

Gab es überhaupt zwei getrennte Weltkriege?

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Und schließlich gibt es noch eine ganz andere Deutung des 20. Jahrhunderts. Manche Historiker:innen stellen – mit durchaus plausiblen Argumenten – infrage, ob es überhaupt zwei voneinander getrennte Weltkriege gegeben hätte. Sie nennen die gesamte Epoche des 20. Jahrhunderts zwischen 1914 und 1945 den “Zweiten 30-jährigen Krieg” oder “Weltbürger:innenkrieg”.

Diese Deutung hat viele Argumente für sich: Auch in vergangenen langjährigen Konflikten, etwa im 30-jährigen Krieg oder im 100-jährigen Krieg, wurde nicht durchgehend gekämpft. Entscheidend sind Kriegsziele und Konfliktparteien. Und diese waren im Ersten und im Zweiten Weltkrieg weitgehend ident.

Deutschland und Österreich zu spät im Kolonialwettlauf

Ausgangspunkt des Ersten Weltkriegs war der Versuch der Eliten in Deutschland und Österreich-Ungarn, eine Neuaufteilung der Kolonien und Einflusssphären zu erreichen. Bei der Aufteilung der Übersee-Kolonien waren beide zu spät dran gewesen. Österreich-Ungarn war ein Kolonialstaat auf europäischem Boden. Mit seinen inneren Widersprüchen und dem Kampf um den Balkan – und den daraus resultierenden Konflikten vor allem mit dem russischen Zarenreich und dem Osmanischen Reich – waren die Ressourcen der Habsburger-Diktatur voll gebunden.

In Deutschland hatte der Nationsbildungsprozess erst sehr spät stattgefunden. Noch 1866 gab es einen Krieg der norddeutschen Länder unter der Führung Preußens gegen die süddeutschen Länder unter der Führung Österreichs. Erst nach dem Sieg Preußens konsolidierte sich Deuschland unter Preußens Führung als einheitlicher Nationalstaat. Die Eroberung von Kolonien in großem Maßstab war somit keine realistische Option, es hätte auch noch keine entsprechende Flotte gegeben, die zur Machtprojektion unmittelbar notwendig gewesen wäre.

Nach der Konsolidierung unter Preußens Führung konnte Deutschland dann nur noch einige wenige Kolonien in Afrika erobern – und verübte dabei etwa im heutigen Namibia ab 1904 den Völkermord an den Herero und Nama. Ein Völkermord, der gleichzeitig auch deutlich die rassistischen Kontinuitäten des deutschen Militarismus bis zum NS-Regime zeigt.

Deutschland und Österreich wollen auch zur Räubern werden

Insbesondere Großbritannien und Frankreich hatten also im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wesentlich bessere Ausgangsbedingungen zur Ausbeutung der Kolonien. Dazu kamen die aufstrebenden USA als weiterer kolonialer Player, vor allem in Mittel- und Südamerika und im Pazifikraum. Und auch andere europäische Staaten hatten fette Stücke am kolonialen Kuchen erbeutet.

Etwa die Niederlande mit Indonesien) oder Belgien mit dem Kongo – sie verübten dort grausame Verbrechen. Doch ab 1914 fühlten sich Deutschland und Österreich-Ungarn militärisch bereit. Das Ziel war die globale Neuordnung auf Kosten der anderen imperialistischen Mächte.

Die anderen großen imperialistischen Räuber wollten ihre Kolonien und Einflussgebiete allerdings naturgemäß nicht kampflos neu verteilen lassen. Immerhin profitierten sie seit Jahrhunderten von der Ausbeutung, den Rohstoffen und den Sklav:innen aus den unterdrückten Kolonien. Doch im Ersten Weltkrieg scheiterten Deutschland und Österreich-Ungarn an ihrem Versuch der globalen Neuordnung. Sie mussten 1918 kapitulieren.

Ein nicht unwesentlicher Grund dafür war eine andere Form der globalen Neuordnung: Im November 1917 waren in Russland die revolutionären Bolschewiki mit W.I. Lenin und Leo Trotzki an der Spitze an die Macht gekommen waren – und die Herrschenden fürchteten auch in Mitteleuropa die sozialistische Revolution. Vor allem in Österreich, Deutschland und Italien wurde die revolutionäre Linke immer stärker – die drei Länder standen nach 1918 wiederholt an der Kippe zur Revolution.

In Ungarn und Bayern wurden im Frühjahr 1919 sogar kurzfristig Räterepubliken etabliert. Allerdings fehlte hier Österreich als geografisches Bindeglied. Die österreichische Sozialdemokratie bekannte zwar in dieser Zeit öffentlich (und absolut plausibel), dass sie jederzeit die Möglichkeit zur Revolution habe – verweigerte aber deren Umsetzung.

Die Zwischenkriegszeit

Doch bereits ab den 1920er Jahren reorganisierte sich der deutsche Militarismus und wollte die erste Niederlage überwinden. Österreich dagegen konnte nach dem Wegfall seiner Binnenkolonien keine eigenständige Rolle mehr spielen. Die österreichische Rechte spaltete sich dann in zwei Lager: Die einen setzen auf das faschistische Italien, die anderen auf die Nazis. Währenddessen rüstete der deutsche Militarismus erneut gewaltig auf – egal ob unter sozialdemokratischen oder rechten Regierungen. Darauf konnte die NSDAP ab 1933 perfekt aufbauen.

Der zweite Weltkrieg aus afrikanischer Perspektive

Diese Entwicklung mündete in Europa schließlich ab 1939 in den Zweiten Weltkrieg. Kleinere Kriege gab es in Europa oder mit Beteiligung europäischer Staaten allerdings auch zwischen 1918 und 1939. So griff 1935 das faschistische Italien das Königreich Äthiopien an, um seine Kolonialherrschaft zu erweitern. Und hier zeigt sich erneut die eurozentristische Perspektive, den Beginn des Weltkriegs allein mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen anzusetzen.

Denn für manche afrikanische Historiker:innen ist laut der “Welt” weit eher der faschistische Überfall auf Äthiopien am 3. Oktober 1935 der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bis heute kann die Zahl der Opfer nur geschätzt werden. Zwischen 150.000 und 700.000 toten Äthiopier:innen schwanken die Schätzungen, so die Welt. Historiker:innen haben die Regentschaft des führenden italienischen Kolonialoffiziers Rodolfo Graziani eine “Schreckensherrschaft” genannt, “für die es in der Kolonialgeschichte Afrikas und Asiens keine Vorbilder gab” (Aram Mattioli). Graziani starb übrigens 1955 friedlich in seinem Bett, nachdem er bereits 1950 aus der Haft entlassen worden war und danach erneut als führender Aktivist der faschistischen Partei MSI aktiv wurde.

Der Faschismus an der Macht endet in Europa erst 1981

Zwischen 1936 und 1939 tobte dann der spanische Bürger:innenkrieg, den die Faschist:innen gewannen. Nicht zuletzt mit massiver Hilfe der faschistischen Regime in Deutschland und Italien – und begünstigt durch die Neutralität der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Der spanische Faschismus war dann durchgehend bis in die späten 1970er an der Macht. Auch hier gibt es übrigens Debatten über das Ende. Als absoluter Schlusspunkt wird üblicherweise der gescheiterte Putschversuch faschistischer Militärs im Februar 1981 angenommen. Beim portugiesischen Faschismus dagegen, der bereits 1926 die Macht erobern konnte, ist zumindest das Ende klar: Er wurde in der Nelkenrevolution ab dem 25. April 1974 gestürzt.

Auch die Kriege Äthiopien und Spanien stehen mit dem Ausbruch des großen Krieges in Europa ab 1939 bereits in unmittelbarem Zusammenhang. Am 1. September 1939 schließlich begann mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen in Europa jener Krieg, den wir bis heute als Zweiten Weltkrieg kennen. Für viele Menschen in China, Japan, Ostasien oder Ostafrika hingegen sind ganz andere Daten von Relevanz, wenn sie an diesen Krieg denken.

Und gerade mit der Mahnung der faschistischen Verbrechen sollten wir – jenseits eurozentristischer Überheblichkeit – ein globales Geschichtsverständnis hochhalten.

[Dieser Artikel wurde mehrfach ergänzt.]

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