Die U4 und die U6 in Wien wurden ursprünglich als “Militärbahnen” gebaut. Genauso wie die Schnellbahn. Mit diesen Wiener Linien wollten sich die Habsburger vor einer Revolution schützen.

Es musste etwas geschehen! Den Habsburgern war im späteren 19. Jahrhundert völlig klar, dass sie in Wien auf einem revolutionären Pulverfass saßen.Die Bevölkerung von Wien war zwischen 1850 und 1900 auf das Doppelte gewachsen – bald lebten rund zwei Millionen Menschen in der Stadt. Und viele dieser Menschen waren enorm wütend über die elenden sozialen Verhältnisse, unter denen sie leben und arbeiten mussten.

Die nächste Revolution schien also nur eine Frage der Zeit. Nun stellte sich für die Diktatoren der kaiserlich-königlichen Monarchie eine entscheidende Frage: Wie konnten sie bei einem Aufstand möglichst schnell Soldaten in die Arbeiter:innenviertel bringen, um die Revolte niederzuschlagen?

Die Habsburger haben Angst vor der Revolution

Die aufstrebende Arbeiter:innenbewegung wurde in dieser Zeit auch in der “Haupt- und Residenzstadt Wien” immer lauter und immer mächtiger. Bereits 1848 hatten große Teile der Wiener Bevölkerung revoltiert und die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Der verhasste Kriegsminister Graf Theodor Latour wurde im Oktober 1848 sogar gelyncht, als die Massen das Kriegsministerium “Am Hof” in der Wiener Innenstadt stürmten.

Latour wurde anschließend auf einer Laterne aufgehangen. “Laternisieren” wurde danach zu einem Schlagwort in Wien – es war eine Referenz an die Französische Revolution von 1789. Denn schon in Ça ira (“Wir schaffen das!”), dem Kampflied der Französischen Revolution, lautete die Parole: “Les aristocrats à la lanterne”. Also: “Die Aristokraten an die Laterne!”. Die Habsburger vermuteten nach Latours Tod mit guten Gründen, dass ihnen bald dasselbe passieren könnte – sie flüchteten aus Wien.

Doch als die Habsburger dann mit kaisertreuen Truppen das revolutionäre Wien zurückeroberten, folgte ein brutales Massaker. Dennoch saß ihnen danach der Schrecken wohl noch lange in den Knochen. Ein weiteres dramatisches Warnsignal für die Habsburger war dann die Pariser Kommune, also der Aufstand der Pariser Arbeiter:innen im Frühjahr 1871. So etwas wollten sie in Wien um jeden Preis verhindern!

Die Habsburger wollten Soldaten transportieren

Und dazu brauchten die Habsburger ein neues Verkehrsnetz. Das Ziel: Im Fall von künftigen Revolten sollten so schnell wie möglich Soldaten in die Arbeiter:innenviertel gebracht werden können. Die sollten die Aufstände der Bevölkerung niederschlagen.

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Doch damals gab es in Wien ein großes verkehrstechnisches Problem: Es gab keinen einheitlichen Hauptbahnhof, sondern stattdessen mehrere Kopfbahnhöfe. Also Bahnhöfe, deren Gleise an unterschiedlichen Orten in Wien endeten.

Das betraf einige noch heute existierende Bahnhöfe: Den Westbahnhof, den Nordbahnhof (heute Praterstern) und den Franz-Josefs-Bahnhof. Dazu auch den Südbahnhof und  den Nordwestbahnhof, die es heute beide nicht mehr gibt. Doch Gleisverbindungen zwischen all diesen Bahnhöfen gab es (so gut wie) keine.  Für die Habsburger war das ein großes Problem.

Wie sollten da bei Aufständen und auch bei Kriegen die Soldaten schnell durch die Stadt transportiert werden? Das sollte nun in Angriff genommen werden!

Die ersten Wiener Linien für das Militär

Oft heißt es ja, dass die ersten U-Bahnlinien in Wien erst in den 1970er Jahren erbaut worden wären. Tatsächlich aber wurde das Wiener Stadtbahnnetz bereits 1898 eröffnet. Die heutigen Linien U4 und U6 sowie die Vorortelinie waren damals als “Stadtbahn” unterwegs. Ergänzt wurde dieses Verkehrssystem von weiteren Eisenbahnstrecken, vor allem der heutigen Stammstrecke der Wiener S-Bahn. Bis heute fahren die U4, die Stammstrecke und die Vorortelinie auf der damals erbauten Trasse.

Gürtelbogen. Bild: Michael Bonvalot

Einzig die U6 wurde später nach Floridsdorf in den Norden und nach Liesing in den Süden verlängert. Es gibt übrigens auch heute noch sichtbare Spuren der alten Trasse: Bei der Spittelau etwa zweigt ein inzwischen stillgelegter Stadtbahnbogen zur Friedensbrücke ab, heute ist darauf ein Fuß- und Radweg. Und die Bahnsteige der U4 am Schottenring und in der Station Meidling Hauptstraße sind besonders breit. Der Grund: In der Mitte waren früher zwei weitere Gleise.

Die Wiener “Um-die-Stadt-Bahn” war ein Militärprojekt

Und wer genauer hinsieht, der wird auch bemerken: Die U4, die U6, die Stammstrecke sowie die Vorortelinie verlaufen noch heute zwischen den großen Wiener Arbeiter:innenbezirken. Gleichzeitig wurden mit diesen Strecken auch die großen Kopfbahnhöfe miteinander verbunden. Die Habsburger hatten also nach militärischen Überlegungen eine “strategische Bahn” oder “Militärbahn” bauen lassen.

Diese militärische Überlegungen waren auch der Grund für die ursprüngliche Routenführung: Das Zentrum von Wien wurde nur von der heutigen U4 und der Stammstrecke gestreift. Der Großteil der Gleise führte dagegen fernab der Innenstadt.

Heute ist das ein Vorteil, dadurch gibt es in Wien wichtige Radialverbindungen zwischen den äußeren Bezirken – im Gegensatz etwa zum Großraum Paris, wo solche Linien mit dem Projekt “Grand Paris” erst jetzt gebaut werden. Doch zeitgenössische Kritiker:innen spotteten: In Wien gäbe es gar keine Stadtbahn. Sondern nur eine “Um-die-Stadt-Bahn”. Erst ab 1978/79 führte mit der neu errrichteten U1 dann die erste Linie unter der Innenstadt hindurch.

Im Vordergrund die inzwischen aufgelassenen Gleise bei der heutigen U4 und U6-Station Spittelau. Im Hintergrund die Müllverbrennungsanlage Spittelau. Bild: Michael Bonvalot

Speziell die Linienführung der Vorortelinie hatte auch wirtschaftliche Gründe: So sollten die Industriebetriebe im Westen der Stadt an den Güterverkehr angebunden werden. Bei den Stationen Ottakring und Hernals ist das noch heute gut sichtbar. Dort gibt es weiterhin zusätzliche Gütergleise.

Die militärischen Überlegungen dagegen sollen noch weiter gegangen sein. So berichtet nach der erstmaligen Veröffentlichung dieses Artikels ein User auf Twitter/X, dass sogar die niedrigen Treppenstufen der Stationen militärische Gründe gehabt hätten. Ein Architekturprofessor hätte ihm einst erklärt, dass so dafür gesorgt werden sollte, dass berittene Soldaten und ihre Pferde die Bahnsteige leichter erreichen konnten. Und sogar Militärkasernen wurden mit dem neuen Verkehrsnetz ans Schienennetz angebunden.

Die Wiener Linien sollen die Militär-Kasernen verbinden

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Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 hatten die Habsburger mitten auf dem Wiener Stadtgebiet mehrere Kasernen errichten lassen. Von dort sollte im Fall von Aufständen der Kampf gegen die Arbeiter:innenklasse geführt werden. So wurde etwa im Nordwesten der Innenstadt am Donaukanal die Rossauerkaserne errichtet. Sie ist bis heute der offizielle Sitz des österreichischen Verteidigungsministeriums.

Im dritten Bezirk entstand das Arsenal. Im zwölften Bezirk die Meidlinger Kaserne. Und sogar direkt am Ring, nahe der heutigen Urania, wurde eine Kaserne gebaut, die Franz-Josephs-Kaserne. Die existiert heute nicht mehr, an dieser Stelle steht inzwischen das ehemalige PSK-Gebäude, ein markanter Jugendstilbau.

Modell des alten Wiens im Wien Museum. Im Vordergrund rechts unten die heute nicht mehr existente Kaserne bei der Urania. Bild: Michael Bonvalot

Soldaten werden mitten in der Stadt stationiert

Alle diese Kasernen sollten im Fall von Aufständen als Festungen benutzt werden. So heißt es in einem Beitrag auf der Seite des Bundesheeres sehr deutlich, vom Arsenal aus hätte “mit der Artillerie bis zum Stephansdom” geschossen werden können.

All diese Kasernen wurden eng mit dem Wiener Schienennetz verknüpft: Die Rossauerkaserne liegt unmittelbar an der heutigen U4-Station Rossauer Lände und in der Nähe des Franz-Josephs-Bahnhofs. Das Arsenal wurde um die Ecke vom alten Südbahnhof und der heutigen S-Bahn-Stammstrecke errichtet.

Das ehemalige Kommandanturgebäude der Kaserne im Arsenal. Bild: Peter Haas. Lizenz.

Die Meidlinger Kaserne steht gleich neben dem Bahnhof Meidling (U6, Stammstrecke, Südbahn). Und die ehemalige Franz-Josephs-Kaserne am Ring bei der Urania ist nur wenige Schritte entfernt von der später aufgelassenen Station Radetzkyplatz der S-Bahn-Stammstrecke.

Gürtelbögen gegen die Revolte

Apropos Festungsbauten: Viele der damals gebauten Strecken wurden in Hochlage ausgeführt – am Gürtel etwa prägen die Bögen der heutigen U6 weiterhin das Stadtbild. Inzwischen gibt es dort viele feine Lokale. Doch die massive Bauweise der Gürtelbögen hatte ebenfalls strategische Gründe. Einerseits galt das für den Kriegsfall.

Doch das Militär konnte solche Mauern auch als militärische Befestigungen verwenden, falls Aufstände in den Vorstädten drohten. Gut sichtbar ist das heute nicht nur bei der U6, sondern auch bei der S-Bahn-Stammstrecke zwischen Meidling und dem jetzigen Hauptbahnhof. Die dortigen, hoch gelegenen, Gleisbauwerke konnten auch als Verteidigungsstellung gegen den mächtigen Arbeiter:innenbezirk Favoriten verwendet werden.

Die frühere Stadtbahn beim AKH, heute fährt hier die U6: Wie eine Festungsmauer. Bild: Michael Bonvalot

Heute freuen sich viele Menschen über das ausgebaute Öffi-System in Wien. Doch für die Habsburger hatte es keinerlei Bedeutung, gute Öffis zu schaffen. Sie wollten vor allem die revolutionäre Bevölkerung unterdrücken. Dass das nicht so gut klappte, zeigte sich dann im November 1918. Da wurden die Habsburger von einer Revolution hinweggefegt. Vor dem Parlament versammelten sich die Arbeiter:innenmassen mit roten Fahnen, auf der Rampe des Parlaments forderte ein Banner: “Hoch die sozialistische Republik”.

Die Habsburger waren nach Jahrhunderten der Diktatur endgültig von der Macht vertrieben. Da konnten ihnen auch die Wiener Linien nicht mehr helfen.

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