Die Zentrale der ATIB in Wien-Favoriten wurde beschädigt. Der türkische Dachverband spricht von “Rassismus” und “Muslimfeindlichkeit”. Doch tatsächlich sind offenbar linke Kurd*innen verantwortlich.

Nachdem in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mehrere Scheiben an der Zentrale der Türkisch-Islamischen Union (ATIB) in Wien-Favoriten beschädigt wurden, fährt die Union schwere Geschütze auf. In einer Aussendung spricht die ATIB von “Muslimfeindlichkeit, Terrorismus und Rassismus”. Weder von “Terrorsympathisanten noch von Rechtsradikalen” dürfe eine Spaltung ausgehen. Die Attacke wäre gar ein “Angriff auf Moscheen die die Ausübung der Religion ermöglichen” und müsse daher “mit aller Härte verfolgt und bestraft werden”, so Vorsitzender Fatih Yilmaz.

Zahlreiche Medien haben danach die Aussendung der ATIB offenbar weitgehend ungeprüft übernommen. Doch waren hier wirklich “Rechtsradikale” am Werk und geht es tatsächlich um “Muslimfeindlichkeit” oder Moscheen? Die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Schon das Bekennervideo zur Attacke ist mehr als eindeutig: “Gegen den IS und türkischen Faschismus” lautet gleich zu Beginn die zentrale Botschaft. Dazu werden Aufnahmen des jüngsten Angriffs des IS auf ein Gefängnis im nordsyrischen Rojava gezeigt.

Screenshot: Bekennervideo

Revolutionäre Musik

Danach ist auf dem Video zu sehen, wie eine Person mehrere Scheiben an der Zentrale der ATIB beschädigt, offenbar mit einem Nothammer. Im Anschluss daran zeigt die Person mit gespreiztem Zeigefinger und Mittelfinger das “Freiheitszeichen”. Schließlich folgen Aufnahmen von linken kurdischen Demos in Wien sowie Parolen für Rojava und Kurdistan. Im Hintergrund spielt revolutionäre kurdische Musik. Es gibt auch ein Bekennerschreiben zur Attacke, das auf der Plattform Emrawi veröffentlicht wurde.

Und auch hier ist die Botschaft klar: “Derzeit bombardiert die türkische Armee Kurdistan, insbesondere die freien Gebiete Şengals, das Flüchtlingslager Mexmûr und die Region um Derik”, heißt es zu Beginn. Dann wird Bezug genommen auf den jüngsten gescheiterten Gefängnisausbruch tausender IS-Djihadist*innen in Rojava sowie auf die parallelen Attacken der Türkei auf kurdische Gebiete: “Hinter diesen Angriffen auf Kurdistan steht der türkische Staat, unterstützt von der NATO und der EU.” Schließlich wird der Bogen zur ATIB gespannt.

Die Türkisch-Islamische Union sei “der verlängerte Arm der Türkei” in Österreich und würde als “Propagandatool” des rechten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner “nationalistisch-islamischen Politik” agieren. Die ATIB sei damit ” Akteur der kriegstreiberischen und kurdenfeindlichen Hetze”. Diese Kritik an der ATIB ist nicht neu – und die Behauptung ist schlüssig.

Kleine Kinder als Propaganda-Instrumente

So wurden etwa 2018 Fotos bekannt, die zeigen, wie in einer großen ATIB-Moschee in Wien-Brigittenau kleine Buben in Uniformen exerzieren, salutieren und türkische Fahnen schwingen. Die Buben in Tarnuniform, teils offensichtlich noch im Volksschulalter, sollen in dieser Inszenierung die Schlacht von Gallipoli aus dem Jahr 1915 nachgestellt haben. Auch junge Mädchen in Kopftüchern sind auf den Fotos zu sehen. Sie alle posieren vor der türkischen Flagge, in Fotokommentaren wurden laut ORF die “Märtyrer” von damals gefeiert. Immer wieder wird der ATIB auch vorgeworfen, politische Gegner*innen der türkischen Regierung zu bespitzeln.

“Die Zentren der ATIB sind Zentren der nationalistischen Propaganda und der Hetze gegen Kurd*innen”, sagt Roza Azad im Gespräch mit mir. Sie ist die Sprecherin des YXK, des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan in Wien. Die ATIB sei “direkt der türkischen staatlichen Religionsbehörden DIYANET unterstellt und damit Präsident Erdoğan”. Die ATIB würde sich “als religiösen Verein tarnen, aber real der politischen Stimmungsmache in Europa” dienen. In der Zentrale in Wien-Favoriten würden auch faschistische Graue Wölfe aus und eingehen.

Wer ist hier der Terrorist?

Wütend ist Roza Azad auch über die ungeprüfte Übernahme der ATIB-Erklärung des Freiheitszeichens in vielen Medien. Denn die ATIB hatte in ihrer Aussendung behauptet, dieses Zeichen würde vor allem von “Terrorsympathisanten” verwendet – und zahlreiche Medien hatten es wortgleich abgeschrieben. Doch spätestens hier hätten Journalist*innen bei der ATIB-Aussendung aufhorchen müssen, denn es ist ein bekanntes Symbol der kurdischen Bewegung. Es wird unter anderem von verhafteten Politiker*innen der linken Partei HDP in der Türkei gezeigt. Die HDP ist die drittstärksten Partei im Parlament von Ankara, die von der türkischen Regierung mit massiver Repression überzogen wird.

“Dieses Zeichen hat selbstverständlich überhaupt nichts mit Terror zu tun. Weltweit verwenden es viele Menschen im Kampf für eine gerechte Welt”, sagt Roza Azad. Und auch der Terrorvorwurf, den die ATIB erhebt, ist mit dem Hintergrund der politischen Situation in der Türkei hochpolitisch und enorm umstritten.

Denn als “Terroristen” bezeichnet die türkische Regierung üblicherweise große Teile der linken und kurdischen Opposition. Damit lenkt die türkische Regierung nicht zuletzt von ihrem eigenen Staatsterrorismus in den kurdischen Gebieten und dem Krieg gegen die kurdische Minderheit ab. Für Roza Azad ist der Begriff “reine Propaganda”.

Zur Verteidigung der ATIB angetreten sind unterdessen auch verschiedene Politiker*innen: Integrationsministerin Susanne Raab von der ÖVP spricht in einem schriftlichen Statement von einer Attacke auf “Religionsausübung”. Die grüne Nationalratsabgeordnete Faika El-Nagashi sagt in einer Aussendung, die Attacke auf die ATIB-Zentrale sei ein Angriff “auf unsere Demokratie”, auch könne “ein nationalistisches oder rassistisches Motiv” nicht ausgeschlossen werden. Der Favoritner SPÖ-Bezirksrat Muhammed Yüksek, dem immer wieder eine inhaltliche Nähe zu türkisch-nationalen Positonen vorgeworfen wird, rückt auf Facebook ebenfalls zur Verteidigung der ATIB aus. 

Dass zahlreiche Medien und auch Politiker*innen jetzt die Behauptungen der ATIB zum Anschlag übernehmen, empört Roza Azad: “Die ATIB ist selbst eine rassistische Organisation, die den Rassismus gegen Kurd*innen und andere Minderheiten schürt”.

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