Neonazis haben seit der Wende in Deutschland wohl über 200 Menschen ermordet. Besonders im Visier sind in den 1990er Jahren Menschen aus Vietnam. Nguyễn Thanh erzählt über die Angst und den Widerstand der Betroffenen.
„Wir hatten sehr oft Angst“ – so beschreibt Nguyễn Thanh* die 18 Jahre, die er in Deutschland verbracht hat. Ich treffe ihn im Süden Vietnams; der genaue Ort bleibt auf seine Bitte ebenso vertraulich wie sein tatsächlicher Name. Vietnam ist eine Diktatur, er möchte keine Probleme bekommen.
Dieser Artikel erschien erstmals im März 2023 und wurde im April 2025 aktualisiert. Titelbild: Gedenkstein für Nguyễn Văn Tú in Berlin
Nguyễn hat während der sogenannten Baseballschläger-Jahre in Ostdeutschland gelebt: Ende 1988 kommt er in die damalige DDR, wo damals zahlreiche Vertragsarbeiter:innen aus dem befreundeten Vietnam arbeiten. Nach der Wende bleibt er noch bis 2006 in Deutschland, wie er erzählt. Es ist die Zeit, in der Rechtsextreme und Neonazis regelmäßig Menschen mit vietnamesischem Hintergrund attackieren, verletzen und ermorden.
Nach der Wende beginnt die mörderische Jagd
„In der DDR gab es im Betrieb keine Probleme mit den Kollegen, dort gab es ein gutes Verhältnis“, erzählt Nguyễn in ausgezeichnetem Deutsch. Er lebt zu dieser Zeit in Halle und arbeitet dort im Kombinat Leuna, dem größten Chemiewerk der DDR. Doch nach der Wende sei es „sehr schwierig geworden“, wie Nguyễn sagt.
Nguyễn verliert seinen Arbeitsplatz. „In den nächsten Jahren habe ich dann unter anderem als Gärtner, Installateur oder Mitarbeiter in einem Restaurant gearbeitet“, berichtet er. Und auch auf der Straße wird die Lage immer schwieriger: Immer öfter seien seine Freunde und er von Rassist:innen attackiert worden.

Bild: Michael Bonvalot
„Wir gingen nur noch in größeren Gruppen auf die Straße, mindestens um die sechs Leute.“ Genau gegenüber von ihrem Wohnheim sei eine Bar gewesen, von dort seien sie immer wieder angegriffen worden. „Auch mit Flaschen“, erzählt Nguyễn. „Doch glücklicherweise wurde nie jemand ernsthaft verletzt“. Andere Menschen trifft es damals noch viel schlimmer.
Die Hetzjagd von Rostock
Vor allem an den August 1992 und das Pogrom von Rostock kann er sich noch sehr gut erinnern, wie Nguyễn erzählt. Mehr darüber erzählen möchte er aber nicht. Tatsächlich haben sich die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen wohl bis heute allen Menschen ins Gedächtnis gebrannt, die sie damals mitverfolgt haben.
Rassist:innen und Neonazis wollen damals zahlreiche Menschen verbrennen. In aller Öffentlichkeit und vor den Augen der Welt. Politik und Polizei schauen zu, schüren den Rassismus. Ich kann mich noch gut an diese Tage, an mein Entsetzen und an meine Wut erinnern. Freund:innen und ich organisieren in Wien eine Demonstration: „Rostock brennt!“.
Neonazis erkennen die Gelegenheit
Die Zustände in der Flüchtlingsaufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen sind damals unhaltbar: Die Aufnahmestelle ist überlastet, Menschen müssen im Freien leben, es gibt keine Duschen und keine Toiletten. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Klaus Kilimann wird später zugeben, dass das genau so gewollt war: Den Menschen sollte der Aufenthalt so schlimm wie möglich gemacht werden.
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Neonazis erkennen die Gelegenheit. Sie bereiten sich gezielt vor, mobilisieren nach Rostock. Es ist kein Geheimnis, immer wieder gibt es entsprechende Ankündigungen und Drohungen. Die deutschen Behörden können, ja müssen wissen, was sich hier zusammenbraut.
Molotowcocktails unter dem Gejohle des Mobs, die Polizei sieht zu
Als die Angriffe immer brutaler werden, sind auch bekannte Führer der Neonazi-Szene vor Ort. Unter ihnen etwa der Hamburger Christian Worch, der Berliner Arnulf Priem oder Gerhard Endress von der Wehrsport-Truppe „Volkstreue Außerparlamentarische Opposition“ (VAPO) aus Wien. Nazis koordinieren dann auch vor Ort die Angriffe auf das Asylheim und das angrenzende Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen.
Zwischen 22. und 26. August 1992 folgen immer neue Attacken. Molotowcocktails werden geworfen – unter dem Applaus, Gejohle und der aktiven Beteiligung eines Mobs von bis zu 2000 Personen. Die Polizei? Sieht dem Mob tagelang vor allem zu. Angeblich seien nicht genug Einheiten verfügbar gewesen.
Zur Einordnung dieser Behauptung: Von Berlin nach Rostock sind es gerade einmal rund 230 Kilometer, von Hamburg nach Rostock nicht einmal 200 Kilometer. Hin und wieder verkündet die Polizei für die Öffentlichkeit dann doch Verhaftungen. Doch viele der Verhafteten sind tatsächlich Linke, die die Menschen im Heim vor dem Mob schützen wollen.
„Es war furchtbar“
Im bereits brennenden vietnamesischen Wohnheim sind zu dieser Zeit rund 120 Bewohner:innen, einige Sozialarbeiter und ein Fernsehteam des ZDF. (Aufzeichnungen davon könnt ihr ab Minute 08:00 hier sehen.) Die Menschen sind im brennenden Haus eingeschlossen, die Polizei tut nichts. Im letzten Moment können sich die Menschen in einen anderen Teil des Gebäudes retten. Sie wären sonst wohl vom Mob lebendig verbrannt worden.
Als einige Tage später dann eine antirassistische Großdemonstration in Rostock organisiert wird, schaffen es Polizei und Politik übrigens mit Leichtigkeit, starke Polizeikräfte zu mobilisieren. Nur so viel möchte Nguyễn zum Pogrom von Rostock sagen: „Über mehrere Tage sind die Nazis immer wieder gekommen. Es war furchtbar.“
Wohl über 200 Menschen werden ermordet
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Nur durch Glück und die Tatkraft der Eingeschlossenen wird in diesen Tagen in Rostock niemand ermordet. Doch andere Menschen aus Vietnam sterben in den Baseballschläger-Jahren durch die Hand von Rassist:innen und Nazis. Einer von ihnen ist Nguyễn Văn Tú. Auch er kam als Vertragsarbeiter in die DDR und arbeitete ab November 1990 im VEB Gummikombinat in Waltershausen (Thüringen).
Ein Rassist ersticht ihn am 24. April 1992 in Berlin-Marzahn auf offener Straße. Tödliche Angriffe gibt es nicht nur in Ostdeutschland: Bereits im August 1980 ermorden Mitglieder der Neonazi-Terrororganisation „Deutsche Aktionsgruppen“ bei einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Hamburg den Lehrer Nguyễn Ngọc Châu und den Schüler Đỗ Anh Lân.
Insgesamt töten Nazis und Rassisten allein in den 1990er-Jahren in Deutschland wohl weit über 100 Menschen, eine endgültige Zahl gibt es bis heute nicht. Die deutsche Zeitung „Zeit“ hat bereits mindestens 187 Menschen erfasst, die zwischen 1990 und 2020 von rechtsmotivierten Gewalttäter:innen umgebracht wurden. Dazu nennt die Zeit weitere 64 Verdachtsfälle. Andere Recherchen kommen auf noch höhere Zahlen. Und immer wieder werden neue Fälle gefunden.
„Wir haben auch manchmal gewonnen“
Nguyễn Thanh lebt heute wieder in Vietnam, er erzählt auch von seiner Familie, doch das soll privat bleiben. Nur eins ist ihm noch wichtig: Er möchte nicht nur als Opfer gesehen werden. Denn hin und wieder hätten seine Freunde und er die Nazis erwischt. Herr Nguyễn sagt dazu nur: „Wir haben auch manchmal gewonnen.“ Und lächelt verschmitzt.
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