Mobbing und Gewalt sind brutale Formen der Unterdrückung von Kindern. Ich war selbst Schul-Sozialarbeiter. Wie gut ausgestattete Sozialarbeit an Schulen viel verhindern könnte.

Wir wissen weiterhin nicht, welche Motive der Amokläufer von Graz hatte. Medienberichte, wonach der Täter in seiner Schulzeit gemobbt wurde, werden von den Behörden nicht bestätigt. Und wir sollen und dürfen nicht spekulieren. Doch die Debatte über Mobbing an Schulen hat damit begonnen.

Stellen wir gleich zu Beginn unzweifelhaft klar: Selbstverständlich ist Mobbing keine Rechtfertigung für Massenmord. Unser Mitgefühl muss den Opfern gelten. Allerdings ist Mobbing ein häufig genanntes Motiv bei Massenmorden in Schulen. Und spätestens jetzt müssen wir uns auch als Gesellschaft endlich damit auseinandersetzen. Nicht zuletzt, um in Zukunft weitere Opfer zu vermeiden.

Es gibt hunderttausende Betroffene allein in Österreich

Der Großteil von uns wurde irgendwann im Leben selbst gemobbt, hat gemobbt oder wurde mindestens Zeug:in von Mobbing. Und die meisten von uns haben Mobbing bereits in der Schule kennengelernt. Für die betroffenen Kinder haben die Demütigung und die Gewalt oft lebenslange psychische Folgen. Die Täter:innen sind Mitschüler:innen, Lehrer:innen und manchmal sogar die eigenen Eltern. Später im Leben können es Vorgesetzte oder Kolleg:innen sein.

Bild: Mediamodifier

Und Mobbing ist ein Massenphänomen: für eine Studie der WHO wurden vor einigen Jahren 163.000 Schüler:innen aus 35 Ländern zu Mobbing befragt. 35 Prozent der Schüler:innen zwischen 13 und 15 Jahren gaben an, in den letzten Monaten zumindest einmal an Mobbing beteiligt gewesen zu sein. Österreich lag in allen Altersgruppen im oberen Drittel.

Wenn die Schule zum Angstsort wird

Ich habe für fast ein Jahrzehnt große Pflichtschulabschluss-Kurse in Wien geleitet und gleichzeitig sozialarbeiterisch betreut. Aus beruflicher Erfahrung weiß ich dabei ganz genau: Vor allem Schulen können für Mobbing-Opfer zu regelrechten Angstorten werden.

Wer etwa den Job absolut nicht mehr aushält, kann in den meisten Fällen kündigen. Doch in Österreich gibt es (zum Glück) Schulpflicht – und ein Schulwechsel ist für viele Eltern eine große Sache. Oft zu groß. Vor allem im ländlichen Raum gibt es dazu teils auch schlichtweg wenig oder gar keine Alternativen.

Mobbing bei Tag und Nacht

Dabei kann ein Schulwechsel für die betroffenen Kinder tatsächlich eine Lösung sein, wenn eine Mobbing-Situation bereits zu verfahren ist. Allerdings führt diese Lösung auch dazu, dass letztlich die Täter:innen belohnt werden und sich niemand mit ihrem Verhalten auseinandersetzt. Eine offensichtliche Gefahr für die nächsten Kinder. Dennoch müssen natürlich immer zuerst die Bedürfnisse des Opfers im Mittelpunkt stehen.

Dazu ist im Zeitalter der sozialen Medien das Mobbing sogar noch umfangreicher geworden. Früher war Mobbing zumindest nach der Schule vorbei. Heute geht es 24/7 weiter – in der Whatsapp-Gruppe der Klasse, auf TikTok, Snapchat oder Insta. Entweder durch direkte Attacken, aber ebenso durch offensichtliche und bewusste Ausgrenzung.

Wir verlieren Kinder

Die betroffenen Kinder sind damit jeden Tag hilflos psychischer und oft auch physischer Gewalt ausgesetzt. Unter den psychischen Folgen leiden viele Kinder lebenslang. Dazu beeinträchtigt Mobbing in vielen Fällen den Schulerfolg – schlechtere Noten und ein möglicher Schulabbruch können ebenfalls lebenslange Folgen haben.

Ein Problem dabei ist auch unser Schulsystem: Alle Kinder machen bereits mit zehn Jahren erstmals einen Übertritt in eine andere Schule mit gänzlich neuen Lehrer:innen. Mit 14 folgt dann für viele ein neuerlicher Übertritt in eine weiterführende Schule oder ins Poly. Und mit 15 endet die Schulpflicht komplett. Es ist ein System, wo drastisch verstärkte Fehlzeiten (auch von Mobbing-Opfern) bereits ab 13, 14 sehr häufig vorkommen, vor allem in den Hauptschulen.

Und schließlich verlieren wir die Kinder und Jugendlichen dann völlig. Sie gehen einfach nicht mehr in die Schule – und irgendwann sind sie weg. Im besten Fall „finden“ wir diese Jugendlichen mit der Ausbildungspflicht ab 15 wieder. Doch inzwischen wurde bereits extrem viel zerstört.

Mobbing ist ein Schulthema, kein Klassenthema

Ich hatte bereits vor meiner eigenen beruflichen Erfahrung geschrieben. Das war ein großer Schulbetrieb, zeitweise betreuten wir an unserem Standort (meist in Wien-Favoriten) täglich fast 300 Jugendliche gleichzeitig. Die Jugendlichen, die bei uns dem Pflichtschulabschluss nachholen wollten, kamen überwiegend aus sozial benachteiligten Familien – multiple soziale und psychische Problemlagen waren an der Tagesordnung.

Viele der Jugendlichen hatten Mobbing als Opfer erlebt, andere waren in der Vergangenheit zu Mobbing-Täter:innen geworden. Stellen wir allerdings auch das unmissverständlich klar: Mobbing ist kein Schicht- oder Klassenthema. Mobbing gibt es in der Hauptschule im Arbeiter:innenviertel ganz genauso wie in der noblen Privatschule für die Kinder der Superreichen.

Frühzeitig eingreifen!

Der beste Schutz vor Mobbing beginnt möglichst frühzeitig und präventiv. Kinder sollen und müssen Empathie und den Schutz von Schwächeren lernen. Die Klassengemeinschaft muss aufgebaut und gestärkt werden. Und Kinder müssen so früh wie möglich „Nein“ sagen lernen und dabei unterstützt werden. Sie müssen dazu in die Lage versetzt werden, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern. Nur so können sie sich im Bedarfsfall ohne Angst Hilfe holen.

Eine wichtige Verantwortung dafür hätten bereits in der frühkindlichen Entwicklung die Eltern. Spätestens, wenn Kinder und Jugendliche zu Hause von Mobbing oder Problemen berichten, sollten Eltern sehr genau zuhören und auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren. Doch darauf können wir uns als Gesellschaft nicht immer verlassen.

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Oft sind Eltern selbst überfordert, haben (bzw.: nehmen sich) wenig Zeit oder haben schlichtweg kein Problembewusstsein. Und vor allem in solchen Fällen vertrauen sich die Kinder den Eltern mit ihren Problemen auch gar nicht an. Sie schämen sich oder wissen, dass die Eltern sie nicht ernst nehmen würden. Und damit kommt die Prävention und die Unterstützung den Kindergärten und Schulen zu.

Eltern und Lehrer:innen können nicht alles

Während Kindergartenpädagog:innen inzwischen meist sehr gut ausgebildet sind, hapert es weiter an der entsprechenden Ausbildung vieler Lehrer:innen. Im Gegenteil kennen wir alle Fälle von Lehrer:innen, die selbst das Mobbing gegen einzelne Kinder anheizen oder gar anführen.

Doch es gibt selbstverständlich auch sehr viele Lehrer:innen, die extrem engagiert sind und denen das Wohlergehen ihrer Kinder und Jugendlichen ein tiefgreifendes Anliegen ist. In meiner beruflichen Praxis durfte ich selber eine Reihe von ihnen kennenlernen, sie haben großartige Arbeit geleistet und ich betrachte es als Privileg, weiterhin mit ihnen befreundet zu sein.

Doch sogar die vielen Lehrer:innen, die sehr gut mit Mobbing-Fällen und anderen Problemen umgehen könnten, sind im regulären Schulsystem oft zeitlich einfach überfordert. Viel zu große Klassen, zu viele Aufgaben und damit zu wenig Zeit, um auf einzelne Schicksale eingehen zu können.

Wir brauchen mehr Zeit und mehr Fachpersonal!

Die Lösungen liegen auf der Hand: Viel kleinere Klassen, mehr Zeit für die Kinder und Jugendlichen sowie eine noch bessere pädagogische Ausbildung. Dazu gehören auch laufende und verpflichtende facheinschlägige Fortbildungen zum pädagogischen Umgang mit Kindern (selbstverständlich in der Dienstzeit). Und es muss Möglichkeit zu einem sanften Ausstieg für jene Lehrer:innen geben, die einfach nicht mehr können.

Völlig ausgebrannte und demotivierte Lehrer:innen, vielfach dann mit Alkoholproblemen, sind Gift für die Kinder – und für sich selbst. Nun könnte (und müsste!) all das ohnehin dringend gelöst werden. Doch auch dann ist Mobbing einfach nicht die spezielle Expertise von Lehrer:innen. Wer gut darin ist, Physik beizubringen, muss deshalb noch lange nicht gut darin sein, einen komplexen Mobbing-Fall in einer Klasse zu lösen.

Und es ist für die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch nicht immer leicht, sich genau der Person anzuvertrauen, die die Noten vergibt und damit über die eigene Zukunft entscheidet. Die Antwort auf dieses Problem wäre – endlich – der massive Ausbau von Sozialarbeit und Schulpsychologie. Also: Eine permanent verfügbare Vertrauensperson in der Schule, die nicht an Prüfungen und Notendruck beteiligt ist.

Was Schulsozialarbeit leisten kann

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In den Kursen, die ich geleitet hatte, hatte ich eine Doppelfunktion: Einerseits war ich Kursleiter (quasi „Direktor“), andererseits Sozialarbeiter. Damit war ich gleichzeitig „Good guy“ and „Bad guy“ – keine ideale Voraussetzung. Dazu hatte ich auch viele bürokratische Aufgaben, also wenig Zeit. Dennoch habe ich immer wieder gesehen, wie wichtig und wie hilfreich Sozialarbeit vor Ort sein kann.

Die Anliegen und Gesprächswünsche der Jugendlichen waren und sind dabei so vielfältig wie das Leben: Probleme mit den Eltern, Angst vor der Jobsuche, Zukunftsängste. Und was für die Betroffenen in vielen Fällen wie eine unüberwindliche Hürde erscheint, können professionelle Sozialarbeiter:innen manchmal mit wenigen Gesprächen, Telefonaten oder Mails positiv klären.

Oft wollten die Jugendlichen aber auch einfach nur reden. Etwa über das Leben und die Gesellschaft. Oder sie brauchten dringend einen Raum zum Ausweinen wegen des letzten Liebeskummers. Und immer wieder gab es auch das Anliegen: „ich habe Stress in der Klasse.“

Sofort aktiv werden

Gute Sozialarbeit heißt spätestens dann: sofortiges Eingreifen. Gespräche mit der Klasse, mit den Lehrer:innen, mit einzelnen Jugendlichen. Und dabei geht es nicht nur um die Vermittlung zwischen den Kindern und Jugendlichen: oft habe ich auch zwischen Jugendlichen und Lehrer:innen vermittelt oder war die erste Anlaufstelle für die Lehrer:innen bei Problemen in der Klasse.

All das benötigt Zeit und Ressourcen. Und im Idealfall findet das alles bereits präventiv statt. Das bedeutet: Eine Klassengemeinschaft aufbauen, Empathie lehren und Kinder psychisch stärken. Das kann Mobbing bereits im Vorfeld verhindern oder zumindest reduzieren.

Konnten mein Team und ich immer alle Probleme lösen? Selbstverständlich nicht. Einiges werden wir zweifellos auch einfach nicht wahrgenommen haben. Doch in vielen Fällen konnten wir potentielle Konflikte bereits frühzeitig erkennen und entschärfen. Was dabei besonders hilfreich war: Kleine Klassengrößen, Begleitlehrer:innen, genug Zeit zur Bearbeitung von Konflikten in der Klasse sowie zusätzliche zeitliche Ressourcen außerhalb der Klasse.

Wir brauchen viel mehr davon

Es gibt bereits Sozialarbeit und Schulpsychologie an Österreichs Schulen. Doch in einem Ausmaß, das bestenfalls an der Oberfläche des Problems kratzt. Tatsächlich wäre es sinnvoll, wenn es bereits in den Volksschulen für mindestens jeweils fünf Klassen eine entsprechende Vollzeitstelle gäbe.

Bild: Michael Bonvalot

Diese Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen sollten dann nicht nur Einzelgespräche führen, sondern auch regelmäßig in den Klassen und bei Schulaktivitäten anwesend sein. Ihre Arbeit müsste auch fix in den Unterrichtsalltag integriert werden, etwa mit zwei Stunden wöchentlich für „Teambuilding“.

Wir haben die Verantwortung für unsere Kinder

Falls irgendjemand glauben sollte, dass das vergeudete Zeit sei: Große Teile unseres erlernten Schulstoffes werden wir nie wieder brauchen. Doch die Fähigkeit, einen sozial adäquaten Umgang mit anderen Menschen zu entwickeln – das werden wir jeden Tag bis zum Ende unseres Lebens benötigen.

Wir werden mit all diesen Maßnahmen klarerweise nicht jeden einzelnen Mobbing-Vorfall verhindern können. Doch wir könnten damit die allermeisten Fälle verhindern oder mindestens frühzeitig erkennen und bearbeiten. Unsere Kinder müssen in die Schule gehen. Und wir haben als Gesellschaft die Verantwortung, sie in dieser Zeit bestmöglich zu schützen. Mit all unseren Möglichkeiten.

Was tun bei Mobbing? Eine sehr gute Zusammenstellung von WienXtra.

Hilfe in Krisensituationen!

Wenn Du oder Dir nahestehende Personen sich in einer psychischen Ausnahmesituation befinden oder Suizid-Gedanken haben, zögere nicht! Es gibt Unterstützung und Hilfe!

Telefonische Unterstützung findest Du österreichweit unter diesen Telefonnummern:

Telefonseelsorge (0–24 Uhr, kostenlos): 142
Männernotruf (0–24 Uhr, kostenlos): 0800 246 247
Frauenhelpline (0–24 Uhr, kostenlos) 0800 222 555
Rat auf Draht (0–24 Uhr, für Kinder und Jugendliche, kostenlos): 147
Kindernotruf (0–24 Uhr, kostenlos): 0800 567 567
Kriseninterventionszentrum (Mo–Fr 10–17 Uhr): 01 / 406 95 95

Das Amike-Telefon der Diakonie bietet Unterstützung in Arabisch, BKS, Dari/Farsi, Deutsch, Englisch, Kurdisch, Türkisch und Ukrainisch (Mo-Fr 10:00 – 13:00 und 14:00 – 17:30). Die Telefonnummer für Deine Sprache findest Du hier.

Weitere Informationen und Hilfsangebote findest Du unter suizid-praevention.gv.at. Auf dieser Seite findest Du auch spezielle Angebote für Dein Bundesland.

In Deutschland erreichst Du den psychiatrischen Bereitschaftsdienst rund um die Uhr unter 116 117. In der Schweiz erreichst Du das Ärztefon jederzeit unter 0800 33 66 55.

Wenn Angehörige von Dir betroffen sind, findest Du Informationen, Rat und Materialien unter www.suizidpraevention.at und www.agus-selbsthilfe.de.

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